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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Christian Bommarius: „Im Rausch des Aufruhrs — Deutschland 1923“

Am: | September 23, 2023

Seit einigen Jahren lässt sich ein Sachbuch-Trend beobachten, den man „Jahrhundertbücher“ nennen könnte. Mit Sicherheit handelt es sich um keine neue Entwicklung; Bücher zu Jubiläen hat es immer gegeben: Festschriften, Jubeltexte und kritische Aufarbeitungen der Vergangenheit je nach Anlass und Absicht der Autoren.

Doch „gefühlt“ hat diese Jahrestags-Literatur in den vergangenen Jahren einen besonderen Aufschwung genommen, was vielleicht auch an der allgemeinen Faszination für die „Goldenen Zwanzigerjahre“, die ja so golden gar nicht waren, liegen mag. Nachdem das deutsche Kaiserreich der Leserschaft auf die Dauer vielleicht doch etwas zu fad geworden ist, steht nun endlich die Weimarer Republik im Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit! — Vor 100 Jahren …

Was waren das aber auch für tolle Jahre: Glitzernd, schillernd, halbseiden und verrucht, temporeich und lebenslustig — so sehen die 1920er Jahre in vielen Köpfen aus. Klischees sind langlebig und nur schwer aus den Köpfen zu kriegen, denn natürlich gab es „die“ Zwanzigerjahre ebenso wenig wie es „die“ 2020er Jahre gibt pauschalisierend gibt.

Um diesen Klischees entgegenzuwirken, bemühen sich Kulturwissenschaftler, Soziologen, Politikwissenschaftler und allen voran die Historiker, die Vergangenheit etwas differenzierter auszuleuchten und nicht auf die kontrastierende Wirkung von grellen Schlaglichtern zu vertrauen. Das interessierte Lesepublikum versteht und honoriert das; die Zeiten der vereinfachenden und holzschnittartigen Beschreibungen scheinen zum Glück vorüber, wenngleich es immer noch negative Beispiele aus jüngster Produktion gibt.

Mit dem vorliegenden Buch des Juristen, Journalisten und langjährigen Mitarbeiters der Berliner Zeitung Christian Bommarius haben wir ein positives Beispiel einer solchen Jubiläums-Literatur in der Hand.

Bücher, die just 100 Jahre in die Vergangenheit führen und der Leserschaft das Leben und Treiben in unterhaltsamer und lehrreicher Weise nahebringen wollen, sind zunächst grundsätzlich verdächtig und mit Vorsicht anzufassen. Was, so wollte man fragen, will, kann und soll uns der Autor sagen? Welche Qualifikation berechtigt ihn, sich dieses Themas anzunehmen? Wieso gerade er/sie?! Wieso erscheint dieses Buch gerade jetzt? Gibt es einen berechtigten Anlass (neue Forschungsergebnisse, bahnbrechende Entdeckungen, neues Quellenmaterial)?? — Oder spekuliert hier die Marketingabteilung eines Verlags auf einen monetären Erfolg, indem man auf der allgemeinen Aufmerksamkeitswelle surft, weil die Weimarer Zeit einfach zurzeit angesagt ist?

Wenngleich sich die Verdachtsmomente einer vor allem am finanziellen Erfolg ausgerichteten Buchveröffentlichung niemals ganz ausschließen lassen, sollten wir uns hiervon nicht die Lektüre versauern lassen. Nehmen wir also endlich das Buch zur Hand und schauen wir möglichst unvorbelastet hinein:

Bereits der erste Eindruck ist positiv. Das Buch überzeugt qualitativ durch seinen festen Einband, einen ansprechenden Satzspiegel und zahlreiche Illustrationen, die den gut lesbaren und sehr flüssig geschriebenen Text begleiten. Schneller, als man denkt, steckt man mittendrin in der unterhaltsamen Lektüre und wandert mit dem Autor durch das turbulente und ereignisreiche Jahr 1923.

Bommarius ist, wie gesagt, Journalist und versteht sein Handwerk. Fakten werden geliefert, aber nicht unnötig ausgeschmückt oder in zu großen Häppchen verabreicht. Wer dieses Buch von Anfang bis Ende — oder besser über das Jahr 2023 begleitend von Januar bis Dezember 1923 — liest, wird eine Menge lernen über die Weimarer Zeit, über das Leben der kleinen Leute und der Großbürger, der Armen und der Reichen.

Viele berühmte Namen tauchen auf, aber auch die weniger bekannten Seiten des Alltagslebens in der jungen Republik beschreibt der Autor auf eine sehr plastische Weise, so dass die Vorstellungskraft des Lesers nur wenig Mühe hat, sich selbst auf eine Zeitreise in jene vergangene und zugleich oft sehr verwandt erscheinende Lebenswelt zu begeben. Genau das sind doch die Kriterien, die ein gutes Sachbuch ausmachen: anschauliches Schreiben, eine Sprache voller Plastizität und ein faktengesättigter Inhalt, der sich stets mit der eigenen Lebenswirklichkeit verknüpfen lässt.

„Im Rausch des Aufruhrs“ erzählt von Hyperinflation und Verarmung, von unvorstellbarem Reichtum und dem Leben auf der Straße, von Lebensfreude und Exzess, von Melancholie und politischen Ressentiments, von Straßenkämpfen und Regierungskrisen (…) — Dieses Buch ist spannend geschrieben und erzählt von einer Zeit des Aufbruchs und Zusammenbruchs, von Resignation und Aufruhr, von Aufbegehren und Verzweiflung. Christian Bommarius gelingt das Kunststück, das Leben und den Zeitgeist jenes Jahres einzufangen und in Worte zu fassen, die nahegehen und den Leser fesseln. — Was mehr könnte man von einem gutgeschriebenen Sachbuch erwarten?!

 

Autor: Christian Bommarius

Titel: „Im Rausch des Aufruhrs — Deutschland 1923“

Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Gebundene Ausgabe: 352 Seiten

ISBN-10: 3423290048

ISBN-13: 978-3423290043

 

 

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