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Friedrich Lenger: „Der Preis der Welt — Eine Globalgeschichte des Kapitalismus“

Am: | Februar 6, 2024

Der Kapitalismus hat sich weltweit als das führende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem durchgesetzt. Diese Entwicklung vollzog sich nicht immer gleichförmig und erfolgreich, sondern war über die Jahrhunderte auch von gegenläufigen Entwicklungen und Rückschlägen geprägt. Diese Entwicklungsgeschichte nimmt der renommierte Historiker Friedrich Lenger in seinem neuen Buch in den Blick, wobei er sich nicht auf eine (vielleicht für manchen immer noch naheliegend erscheinende) eurozentrische Perspektive beschränkt, sondern vielmehr eine Globalgeschichte des Kapitalismus nachzuzeichnen versucht.

Friedrich Lenger ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Gießen — und genau einen solch weiten historischen Blick über Mittelalter und Neuzeit bis in die Gegenwart braucht es, um eine Globalgeschichte des Kapitalismus zu erzählen, die nicht wie gewöhnlich nur die letzten 500 Jahre seit der Renaissance umfasst. Wenn auch vor 500 Jahren eine neue Entwicklung von den italienischen Handelsstaaten ausging, so liegen ihre Wurzeln in der Zeit davor und führen uns weiter zurück in die Vergangenheit.

In seiner beeindruckenden Untersuchung fragt der Autor nach der Dynamik der globalen Prozesse, die zum Siegeszug des Kapitalismus geführt haben, zunächst in der Alten Welt und dann über den Kolonialismus und den Ausbau globaler Handelsrouten sowohl in der Neuen Welt als auch im Austausch mit Asien. Eine Kernfrage dieses Buches betrifft das Vorantreiben asymmetrischer Verhältnisse in der Welt. Lange Zeit war der globale Westen die treibende und somit auch die am meisten profitierende Kraft in diesem Globalisierungsprozess.

Mit der Etablierung von Handelswegen und dem globalen Warenverkehr „exportierte“ der Westen auch das kapitalistische Wirtschaftssystem in die kolonisierten Teile der Welt — und mit ihm natürlich auch die kapitalistische Ideologie. Der Austausch von Waren und Ideen war von Anbeginn durchaus auf Wechselseitigkeit angelegt, in der Praxis dominierte jedoch für lange Zeit ein eher einseitiger Transfer zugunsten der europäischen Handelsmächte und ihrer Institutionen (wie die britische East India Company (EIC) oder die niederländische Ostindien-Kompanie (VOC)).

Es gehört zu den besonderen Stärken der vorliegenden Abhandlung, dass Lenger diese schon in zahlreichen Publikationen beschriebenen Entwicklungen kolonialer Handelsverbindungen aus ihrer oft stark eurozentrischen Beschreibung löst und für eine multiperspektivische Betrachtung öffnet, die ihr Gewicht stärker auf die Wechselseitigkeit der transkontinentalen Verflechtungen legt.

Das Buch fragt nach dem Zusammenhang zwischen kapitalistischer Dynamik und globaler Asymmetrie seit dem 15. Jahrhundert. Der Autor gliedert seine Darstellung in sechs Abschnitte, deren erster das frühzeitliche Eindringen europäischer Länder in den süd- und südostasiatischen Raum und in die mittel- und südamerikanischen Regionen behandelt. Hierbei wird besonders Augenmerk auf das Zusammenspiel von Handelskapital und Staat gelegt.

Im zweiten Abschnitt rückt der atlantische Dreieckshandel (triangle trade) zwischen Europa, Afrika und Amerika ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Verschleppung afrikanischer Sklaven in die Karibik und in die Südstaaten Amerikas, der Export von Rohstoffen zurück nach Europa und schließlich die europäische Industrieproduktion für die afrikanischen Handelsplätze in den Küstenregionen führten zu einer dynamischen Entwicklung jener auf Kapital und Macht aufbauenden Handelsstrategie, die sowohl durch die Sklaverei als auch durch andere Formen unfreier Arbeit erst ermöglicht wurde.

Die Industrielle Revolution, mit der sich Lenger im dritten Abschnitt seiner Abhandlung auseinandersetzt, wird durch die beiden vorangegangenen Abschnitte bereits perspektiviert. Die Bedeutung des Dreieckhandels für die Industrialisierung in England wird ebenso untersucht wie die Rohstoffimporte aus den britischen Kolonien. Der Autor fragt auch nach den Gründen für die Auseinanderentwicklung von Europa und Asien im 19. Jahrhundert, denn trotz aller expansionistischen Bestrebungen des Westens, mittels eines Freihandelsimperialismus weltweit an Einfluss zu gewinnen, war die ökonomische Integration der Welt auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch recht begrenzt.

Dies änderte sich jedoch um die Jahrhundertwende mit dem Siegeszug der technologischen Entwicklungen (Dampfschifffahrt, Telegraphie und Eisenbahn), durch die sowohl die Transportkosten gesenkt als auch weitere Räume (für den Freihandel) erschlossen wurden. Diese Entwicklung ist Thema des vierten Abschnitts.

Eine harte Zäsur dieser dynamischen Entwicklung brachte der Erste Weltkrieg. Doch schon in den 1920er Jahren bemühte man sich um die „Rekonstruktion einer Weltwirtschaftsordnung“, indem man Institutionen ins Leben rief, die teilweise bis heute existieren. Spätestens in jener Zeit formierte sich auch der zentrale Interessenkonflikt zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, der bis heute die globalen Wirtschaftsströme prägt. Im fünften Abschnitt dieses Buches befasst sich der Autor mit diesen globalen Verflechtungen und Interessenskonflikten unter dem Einfluss politischer Verhältnisse im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg bis in die 1970er Jahre.

Den letzten Abschnitt des Buches beleuchtet die Entwicklung vom Anfang der 1970er Jahre bis heute, mit der Absage an das Abkommen von Bretton Woods und der Schaffung einer neuen Wirtschafts- und Finanzordnung. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und die durch die Innovation des Containersystems ausgelöste Transport-Revolution führten zu einem starken Globalisierungsschub und ließen ein Weltwirtschaftssystem entstehen, das heute gemeinhin als „neoliberal“ bezeichnet und kritisiert wird; die Digitalisierung aller Lebensbereiche in den letzten Jahrzehnten führte zu einer weiteren Dynamisierung dieser Entwicklung.

Heute gehören die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die permanente Krisenanfälligkeit der Finanzmärkte, die Stützungsmaßnahmen der Federal Reserve und der EZB zur Eindämmung der Inflation, die Interventionen von IWF und Weltbank, die Armut in der Dritten Welt und auch in den Industrieländern zu den bekannten Begleiterscheinungen eines globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die aktuellen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, verlangen nach Lösungen.

Am Ende seiner Abhandlung verzichtet der Autor ganz bewusst auf kurzfristige Prognosen und zieht es vor, „einige Schlussfolgerungen zum langfristigen Verlauf sowie Reflexionen über Optionen einer zukünftigen Entwicklung“ zu präsentieren. Gerade auch jene reflexive Grundhaltung zeichnet dieses Buch aus: Anstatt sich in plakativen Formulierungen zu gefallen oder im Angesicht der vielfältigen globalen Krisen einem hektischen Aktionismus das Wort zu reden, zieht der Autor eine reflektierende Betrachtung historischer Prozesse vor, um auf diesem Wege, wissenschaftlich fundiert, nach möglichen Lösungswegen zu suchen.

 

 

Autor: Friedrich Lenger
Titel: „Der Preis der Welt — Eine Globalgeschichte des Kapitalismus“
Herausgeber: C.H.Beck
Gebundene Ausgabe: 669 Seiten
ISBN-10: ‎3406808344
ISBN-13: 978-3406808340

 

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