Jörg Später: “Siegfried Kracauer – Eine Biographie”
Am: | Dezember 22, 2016
Jörg Später ist Historiker und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Er hat jetzt im Suhrkamp-Verlag vorgelegt, worauf viele Intellektuelle gewartet haben, auch wenn sie es vielleicht selbst nicht gewusst haben: die erste umfangreiche Biographie von Siegfried Kracauer.
Kracauer ist den meisten bekannt als Filmtheoretiker: Seine Abhandlung Von Caligari zu Hitler, geschrieben im amerikanischen Exil, sollte nachweisen, wie sich von den Stummfilmen der 1920er Jahre und den Filmstoffen der frühen Tonfilmzeit eine direkte Entwicklungslinie zu den Propaganda-Filmen der Nationalsozialisten und den Unterhaltungsfilmen der UFA in den 1930er Jahren ziehen lässt.
Doch Kracauer war viel mehr als „nur“ Filmtheoretiker. Zunächst erlernte er den Brotberuf des Architekten, den er jedoch schon bald nach Ende des Ersten Weltkriegs aufgab, um einen „Wortberuf“ zu erwählen. Dieser Entschluss kam nicht aus heiterem Himmel, sondern war lange vorbereitet. Vor dem Krieg, während seiner Studienzeit, besuchte Kracauer auch die philosophischen und soziologischen Vorlesungen von Georg Simmel und Max Scheler; beide Lehrer wurden für ihn zu wichtigen Bezugspersonen, denen Kracauer seine ersten philosophischen Arbeiten vorlegte und die ihn in seiner Absicht, einen intellektuellen Berufsweg einzuschlagen, immer wieder bestärkten.
Simmel und Kracauer stammten beide aus jüdischen Familien: Simmel litt zeitlebens unter dem latenten, aber weitverbreiteten Antisemitismus an den deutschen Universitäten; als Kracauer Simmel in Berlin begegnete, war jener kein ordinierter Professor, sondern las seine Vorlesungen nur in der Rolle eines „Privatdozenten“; erst in seinen letzten Lebensjahren wurde Simmel aus Berlin auf eine Professorenstelle ins ferne Straßburg weggelobt. Kracauers eigene jüdische Abstammung zwang ihn kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 ins französische Exil und führte ihn später weiter über Spanien nach Amerika, wo er als 52jähriger zum dritten Mal ein neues Leben beginnen musste.
Man kann Kracauer viele Schilder umhängen: Er war Essayist, Feuilletonist, Flaneur, Filmkritiker, Soziologe, Philosoph, Romancier… Entscheidend und bemerkenswert ist die Tatsache, dass er sich niemals um solche Zuordnungen scherte, sondern immer nur seinen eigenen Weg verfolgte. Es ging ihm, wie er in seinem berühmten Essay über das Ornament der Masse schrieb, um das Erkennen von „Oberflächenäußerungen“:
„Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen dieser Epoche über sich selbst.“
In der Analyse jener „unscheinbaren Oberflächenäußerungen“ der profanen Kultur seiner Zeit fand Kracauer seinen Zugang zur eigenen Wirklichkeit. Nur jener distanzierte Blick des Flaneurs und des außenstehenden Betrachters ermöglichte ihm die Kontingenzbewältigung der komplexen und fragmentarisierten Realität und die Positionierung der eigenen Person in dieser Welt.
1920 veröffentlichte Kracauer seinen ersten Artikel in der FZ, der Frankfurter Zeitung, die schon damals als liberal-demokratische Tageszeitung ein hohes Ansehen genoss. Schnell stieg Kracauer zum Feuilleton-Redakteur auf und publizierte regelmäßig in der FZ. Kracauers Werdegang war jedoch nicht akademisch fundiert und seine Arbeit hätte auch niemals den exakten Ansprüchen einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin genügt. Doch Kracauer verstand sich auch selbst eher als einen Beobachter, der lieber über den hohen Tellerrand einzelner Wissenschafts-Perspektiven blicken wollte und an einer, wie man heute sagen würde, „holistischen“ Erfassung der Wirklichkeit interessiert war. Dieser interdisziplinäre Ansatz war zweifellos ein Erbe seines Lehrers Simmel, der selbst in keine der akademischen Schubladen gepackt werden wollte und konnte.
Kracauers lebenslange Freundschaften zu Adorno, Benjamin, Lukács und Bloch formten sich frühzeitig; die gegenseitige intellektuelle Befruchtung beflügelte nachhaltig den philosophischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre und darüber hinaus. Jener junge Kreis von Intellektuellen war getrieben von jener „transzendentalen Obdachlosigkeit“, die Georg Lukács bereits 1916 in seiner Theorie des Romans als das Grundgefühl und Dilemma seiner Generation formulierte.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass Siegfried Kracauers Werk so vielfältig und fachübergreifend war, dass sich bislang niemand (abgesehen von einer schmalen Monographie im Rowohlt-Verlag, die von Momme Brodersen verfasst war und längst vergriffen ist) daranmachte, eine Biographie über Siegfried Kracauer zu schreiben. Doch der Historiker Jörg Später hat mit diesem vorliegenden Buch noch viel mehr geschaffen: Es ist ein wahres Muster- und Meisterstück aus dem lange verschmähten Genre der Biographien, denn es verbindet Leben und Werk eines der bedeutendsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu einem schillernden Ganzen und schafft eine faszinierende Synthese beider Lebensbereiche, dem Privaten und dem Beruflichen, dem Materiellen und dem Intellektuellen.
In seiner Einleitung beschreibt der Autor seine Vorgehensweise und die Absichten, die er verfolgt, so dass er selbst an dieser Stelle ausführlich zu Wort kommen soll:
„Mein Kracauer-Buch ist eine Biographie, in der es konventionell um ‚Leben und Werk‘ geht — das Werk, da es sich um einen philosophischen Schriftsteller handelte und sein Leben ohne das Werk weitaus weniger bedeutend wäre; das Leben, weil ohne es das Werk nicht zu verstehen und weitaus weniger aussagekräftig wäre. ‚Leben und Werk‘ finden in der Hypothese zusammen, dass das Leben und das Werk Kracauers im Zeichen der Existenzbewältigung stehen, und zwar im umfassenden Sinn: in der philosophischen Suche nach Sinn, im Willen, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu ermitteln, im nackten materiellen wie physischen Kampf ums Überleben, schließlich in der Freude an der ästhetischen Arbeit.“
Kracauer wurde in der Tat mehrmals in seinem Leben an den Rand seiner physischen und materiellen Existenz gedrängt, sein Lebensweg ist immer nur auf kurzen Wegstrecken gerade und ohne Hindernisse. Auch deshalb ist diese Biographie lesenswert, weil sie zeigt, wie ein Menschenleben gegen alle Widerstände, die von außen sich gegen es stellen, erfolgreich gelebt werden kann. Anhand von Kracauers Biographie durchwandern wir einen Großteil der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Kracauers Texte und Gedanken sind heute so modern wie zu jener Zeit, als sie geschrieben wurden. Man lese nur seine bemerkenswerte Sozialstudie Die Angestellten aus dem Jahr 1929, und man findet vieles, was auch die heutige Arbeitswelt vieler Menschen treffend charakterisiert. Oder man lese seine Theorie des Films von 1960, in der es ihm um die „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ ging, und man wird vieles finden, was auch heute noch für die theoretische Beschäftigung mit dem Medium Film grundlegend und gültig ist. Kracauers Texte zeichnen sich nicht nur durch ihre stilistische Schönheit aus, sondern haben einen Tiefgang und eine Mehrdimensionalität, wie man sie heute nur noch ganz, ganz selten findet.
Viele Betrachtungen Kracauers gelten den profanen, den kleinen Dingen des Alltags und der Phänomene jener populären Kultur seiner Zeit. Hier wird deutlich, woher Kracauers konzentrierte Beschäftigung mit jenen „unscheinbaren Oberflächenäußerungen“ stammt: Sein Lehrer Georg Simmel schrieb bereits 1903 in seinem vielleicht berühmtesten Vortrag über Die Großstädte und das Geistesleben, dass sich „von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken lässt, dass alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“
Simmels Senkblei wird von Kracauer durch die „unscheinbaren Oberflächenäußerungen“ des öffentlichen Lebens in die unteren Schichten getaucht, um dort auf einen tieferen Sinnzusammenhang zu stoßen, der an der Oberfläche verborgen bleibt. — Ähnlich muss auch Jörg Später während seiner jahrelangen intensiven Beschäftigung mit Kracauer verfahren sein, als er die vielen Fragmente dieses Lebens und des umfangreichen und sehr vielschichtigen Werkes zusammengetragen hatte, um dann die zahllosen Puzzleteile zusammenzufügen und das Ganze mit einem tieferen Sinn zu verbinden versuchte.
Für dieses Buch wurde die gesamte Korrespondenz Kracauers aus seinem Nachlass durchgesehen, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt. Der Autor hat selbst Kracauers zwei autobiographisch gefärbte Romane Ginster und Georg in seine Rekonstruktion von Kracauers Leben miteinbezogen, wobei er sich selbstverständlich der Tatsache bewusst war (und ausdr+cklich darauf hinweist), dass es sich hierbei um fiktionale Texte handelt.
Der umfangreiche Anhang (über 130 Seiten!) mit Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Bildnachweisen und Namensregister erfüllt alle Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit einer solch grundlegenden Forschungsarbeit. Von wissenschaftlichen Publikationen im renommierten Suhrkamp-Verlag ist man allerdings auch nichts Anderes gewöhnt; auf höchstem Niveau verbinden sich hier Form und Inhalt zu einem neuen Standardwerk über einen der wichtigsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Jörg Später hat mit dieser ersten echten Kracauer-Biographie nicht nur eine (längst fällige!) Pionierarbeit geleistet, sondern hoffentlich auch den Startschuss gegeben zu einer neuen Beschäftigung mit Siegfried Kracauer und zur Lektüre seiner immer noch aktuellen Texte zu gesellschaftlichen und politischen Themen seiner Zeit, die auch (immer noch und wieder) die Themen unserer Zeit sind.
Autor: Jörg Später
Titel: “Siegfried Kracauer – Eine Biographie”
Gebundene Ausgabe: 743 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518425722
ISBN-13: 978-3518425725
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