Jens Wietschorke: „Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“
Am: | Juni 9, 2023
Das Spannungsverhältnis zwischen Wien und Berlin um 1900 ist ein faszinierendes Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur. Beide Städte standen zu dieser Zeit im Mittelpunkt intensiver Modernisierungsprozesse, die die Gesellschaften grundlegend veränderten. Wien, die prächtige Hauptstadt der Donaumonarchie, und Berlin, aufstrebendes Zentrum des Deutschen Kaiserreichs, waren Schauplätze einer kulturellen Auseinandersetzung, die von Rivalität, Innovation und Wettbewerb geprägt war.
Die Modernisierung um 1900 war ein umfassender Prozess, der verschiedene Bereiche der Gesellschaft erfasste. Soziale und kulturelle Umwälzungen, die Entwicklung von Technologie und Industrie, aber auch urbane Veränderungen und Städtebau waren zentrale Elemente dieser Zeit. In Wien und Berlin spiegelten sich diese Prozesse in einer spannungsgeladenen Beziehung wider.
Wien, geprägt von der prunkvollen Vergangenheit des Habsburgerreichs, war eine Stadt, die auf Tradition und Kultur setzte. Die Wiener Klassik, die Musik von Mozart, Haydn und Beethoven, hatte ihren Ursprung in dieser Stadt. Doch trotz des konservativen kulturellen Erbes entwickelte sich Wien um 1900 zu einem Zentrum des Aufbruchs. Die Wiener Secession und der Jugendstil brachten eine neue künstlerische Sprache hervor, die den traditionellen Kanon herausforderte. Künstler wie Gustav Klimt, Koloman Moser und Egon Schiele schufen Werke, die die Konventionen sprengten und den Weg für die moderne Kunst bereiteten.
Berlin hingegen, noch relativ jung und im Aufbruch zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Deutschen Kaiserreichs, verkörperte den modernen Zeitgeist. Die Stadt war geprägt von einer rasanten urbanen Entwicklung, die von groß angelegten Bauprojekten und Infrastrukturmaßnahmen begleitet wurde. In Berlin entwickelte sich eine pulsierende Kunstszene, die von Expressionismus, Futurismus und Kubismus geprägt war. Die Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen der Stadt, darunter Namen wie Thomas Mann, Bertolt Brecht und Max Liebermann, brachten eine neue Energie in die kulturelle Landschaft.
Das Spannungsverhältnis zwischen Wien und Berlin war sowohl auf kultureller als auch auf politischer Ebene spürbar. Die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Städten führten zu Rivalitäten und Auseinandersetzungen. Wien hielt an seinem konservativen Erbe fest und betonte die Bewahrung von Traditionen, während Berlin eine experimentellere und dynamischere künstlerische Szene hervorbrachte. Diese Rivalität führte zu einem regen Austausch, aber auch zu Konflikten zwischen den Künstlern beider Städte.
Auch politisch gab es Spannungen zwischen Wien und Berlin. Das Habsburgerreich und das Deutsche Kaiserreich verfolgten unterschiedliche politische Ziele und hatten unterschiedliche Interessen. Die nationale Frage spielte eine wichtige Rolle, da Wien ein Vielvölkerstaat war, während Berlin die Einigung Deutschlands vorantrieb. Diese politischen Differenzen spiegelten sich auch in den kulturellen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Städten wider.
Jens Wietschorke ist Kulturwissenschaftler und lehrt am Institut für Empirische Kulturforschung und Ethnologie der LMU München. In seinem Buch beschreibt er vor allem aus einer kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektive die spannungsreiche „Liebesbeziehung“ dieser beiden zentraleuropäischen Metropolen im frühen 20. Jahrhundert. Sein Buch verfügt über einen ausführlichen Anhang mit Bibliographie, genügt somit durchaus auch wissenschaftlichen Ansprüchen, orientiert sich jedoch erfreulicherweise vor allem an einer interessierten Leserschaft ohne wissenschaftlichen Background. Dieses Buch liest sich demzufolge wunderbar leicht und bietet einen niedrigschwelligen Zugang zur faszinierenden Zeitgeschichte dieser beiden Städte.
Die Modernisierung hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Identität beider Städte. Wien versuchte, seine kulturellen Traditionen im Zeitalter des Wandels zu bewahren, während Berlin eine moderne und innovative Identität anstrebte. Die Architektur und das Stadtbild wurden zu Ausdrucksformen dieser Identitäten. Prachtvolle Gebäude wie die Wiener Staatsoper und das Hundertwasserhaus repräsentieren den Reichtum und die Tradition Wiens, während der Bau des Reichstagsgebäudes und des Berliner Stadtschlosses den Fortschritt und die Ambitionen Berlins verdeutlichen.
Das Spannungsverhältnis zwischen Wien und Berlin um 1900 ist ein faszinierendes Kapitel der europäischen Kulturgeschichte. Die Auseinandersetzungen, Rivalitäten und kulturellen Entwicklungen zwischen den beiden Städten spiegeln die Dynamik einer Zeit des Wandels wider. Die Modernisierungsprozesse um 1900 haben die kulturellen Landschaften von Wien und Berlin nachhaltig geprägt und ihre Bedeutung bis heute bewahrt. Beide Städte haben zur kulturellen Vielfalt Europas beigetragen und sind Zeugnisse einer faszinierenden Epoche des kulturellen Aufbruchs.
Ein spannendes Buch über Berlin und Wien im frühen 20. Jahrhundert. Eine unterhaltsame Lesereise in jene Vergangenheit, als die Moderne erfunden wurde.
Autor: Jens Wietschorke
Titel: Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
Herausgeber: Reclam Verlag
Gebundene Ausgabe: 345 Seiten
ISBN-10: 315011442X
ISBN-13: 978-3150114421
Tags: 1900 > architektur > berlin > berliner moderne > gesellschaft > kultur > kunst > mode > wien > wiener moderne > wietschorke