Andreas Dorschel: „Ideengeschichte“
Am: | September 6, 2010
Vom italienischen Professor der Rhetorik Giambattista Vico (1668-1744) stammt der folgende Satz: „Ideengeschichte beginnt nicht erst, wenn die Menschen von Ideen reden. Denn von Ideen reden sie erst, sobald sie darüber nachzudenken anfangen, was es heißt, Ideen zu haben – das heißt: etwas zu meinen, zu glauben oder zu wissen. Menschen haben aber Ideen, lange bevor sie darüber nachzudenken beginnen, was es heißt, Ideen zu haben. Sie meinen, glauben und wissen, ehe sie Theorien des Meinens, Glaubens und Wissens aufstellen.“
Vielleicht muss man diesen Absatz zwei Mal oder öfter lesen, um ihn zu verstehen. Dann aber erschließt sich dem Leser sein Sinn, und er bekommt eine Ahnung davon, worum es auf den nächsten 200 Seiten geht.
Andreas Dorschel, deutscher Philosoph und Professor für Ästhetik an der Grazer Kunstuniversität, beschäftigt sich im vorliegenden Buch mit der Ideengeschichte, also mit den geschichtlichen Aspekten von Ideen. Bei seiner Analyse geht er ganz deduktiv vor und versucht zunächst die Klärung des Begriffs Idee. – Was ist eine Idee? Und was unterscheidet Ideen von Meinungen, Glaubenssätzen und Wissensäußerungen.
Zur Klärung des Begriffs zieht er drei Koordinatensysteme heran: die Ideenzeiten, die Ideenräume und die Verbindung zwischen Idee und Sprache.
Will man Ideen wissenschaftlich betrachten, so müssen sie immer mit ihrer zeitlichen und räumlichen Verortung kontextualisiert werden. Eine Idee entsteht zu einer bestimmten Zeit, in einem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld, das mit in Betracht gezogen muss, will man die Idee richtig einordnen. Dasselbe gilt für die räumlichen Aspekte. In welcher Kultur ist eine Idee entstanden?
Die natürliche Ausdrucksform einer Idee ist die Sprache. Wir können von einer Idee nur erfahren, wenn ihr Inhalt artikuliert und kommuniziert wird. Hierfür verwenden wir unsere Sprache. Aber wie wird eine Idee beschrieben? Welche Worte werden benutzt und welche nicht? – „Worte sind nur ein Medium von Ideen unter anderen; Musiker denken in Tönen, Architekten in Räumen, Maler in Formen und Farben, Mathematiker in Zahlen oder, abstrakter, in Funktionen.“
Betrachtet man die Entstehungsgeschichte von Ideen, so wird schnell klar, dass wir gleichzeitig einen Blick auf das soziale Umfeld werfen, in der diese Ideen entstehen konnten. Ideengeschichte ist also immer auch Sozialgeschichte – und umgekehrt.
In seiner Abhandlung über die Ideengeschichte untersucht Dorschel zunächst den Ursprung der Ideen und die verschiedene historischen versuche, den Begriff der Idee zu definieren. Er beginnt mit den Vorsokratikern, wandert dann über die Ideenlehre Platons und Aristoteles’.
Der christliche Platonismus hat für viele Jahrhunderte die Vorstellung des Ursprungs und der Wesensart von Ideen geprägt, bis im späten 17. Jahrhundert John Locke einen „new way of ideas“ entwickelte. Den Reigen schließen die heutigen Historiker, die den Terminus der Idee vor allem im historischen Kontext sowie im zeitlichen und räumlichen Wirkzusammenhang (s.o.) verstehen möchten.
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Abgrenzung der Idee von verwandten Begriffen wie dem Problem. Was haben Ideen mit Problemen zu tun? – „Ideen lösen gegebene Probleme und schaffen neue Probleme – neue Probleme, die manchmal größer werden, als es die alten waren.“ konstatiert er geradezu lakonisch.
Wie entstehen aber überhaupt Ideen? Und ist jede Idee, die man hat, automatisch eine neue Idee? – Leider nein. Alte, übernommene Ideen sind viel öfter die Regel als neue, unverbrauchte Ideen:
„Eine fremde Idee fällt einem Menschen eher ein als eine eigene. Die meisten Ideen, mit denen eine oder einer wirtschaftet, haben sie oder er nicht selbst erdacht. Sie haben sie anderen entlehnt. Es steht hier kaum anders als mit materiellen Dingen, die wir besitzen – wenig Selbstgemachtes hat da meist seinen Platz neben vielem, was uns vererbt, geschenkt oder verkauft wurde.“
Wenn also originäre Ideen eher die Ausnahme sind, muss man die Frage stellen, wie gegebene Ideen tradiert werden, wie man sie bewahrt oder auch verändert. Hiermit beschäftigt sich Dorschel im nächsten Teil seines interessanten kulturwissenschaftlichen Essays.
Den Abschluss des Buches bildet die Erörterung der Fragen nach Verfolgung, Chiffrierung und Verheimlichung von Ideen. Die Weltgeschichte ist voll von Beispielen unliebsamer Ideen, deren Urheber oder Verkünder nicht selten der Verfolgung oder Folter ausgesetzt waren. Eine gute Idee zu haben, war zu allen Zeiten nicht immer eine gute Idee.
Andreas Dorschels „Ideengeschichte“ ist ein 200 Seiten starker und sehr fundiert geschriebener Lehrtext zur Kulturgeschichte der Idee. Sein Schreibstil ist flüssig und anschaulich. Oft hört sich der Text an wie die Transkription einer Vorlesungsreihe. Die ausgezeichnete Strukturierung und die akademisch Annäherung an das Thema zeichnen dieses Buch aus. Mit Hilfe on kleinen Rahmen sind immer wieder Thesen in den Fließtext eingebaut, die dann im folgenden Verlauf verifiziert werden. Reichlich eingestreute Beispiele tragen sehr zur Anschaulichkeit des recht theoretischen Themas bei.
Andreas Dorschels „Ideengeschichte“ ist bei Vandenhoeck & Ruprecht in der UTB-Reihe erschienen. Wer sich mit dem Thema beschäftigen möchte, trifft mit diesem klar gestalteten und gut lesbaren Taschenbuch die erste Wahl.
Autor: Andreas Dorschel
Titel: „Ideengeschichte“
Taschenbuch: 216 Seiten
Verlag: UTB, Stuttgart
ISBN-10: 3825233146
ISBN-13: 978-3825233143
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