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Norman Ohler: „Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich“

Am: | Oktober 21, 2015

Pervitin. Die besten, schlimmsten und unglaublichsten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst. Keine Persiflage auf den nationalsozialistischen Drogenkonsum könnte sich einen besseren Produktnamen für die Volksdroge Metamphetamin ausdenken als die Temmler-Werke in Berlin, die sie in den 1920er Jahren als das bislang wirkungsstärkste „Weckamin“ entwickelt hatten. Pervitin wurde schnell zur ersten nationalsozialistischen Perversion in Pillenform, weitere sollten folgen. Pervitin war das Crystal Meth des Dritten Reiches, Aufputschmittel für die Volksgenossen und Blitzkrieger und faschistische Fanatiker.

Die Medikamenten-Industrie des Dritten Reiches wurde von den Historikern bislang relativ stiefmütterlich behandelt. Die Auswirkungen des massenhaften Drogenkonsums auf die Entwicklungsgeschichte des Dritten Reiches und den Verlauf des Krieges wurden bestenfalls am Rande erwähnt. Allenfalls in homöopathischen Dosen erfuhr man, was in deutschen Chemielaboren erfunden und produziert wurde.

Doch nun wird alles anders: Norman Ohler, Journalist, freier Schriftsteller und Online-Künstler hat fünf Jahre für sein erstes Sachbuch recherchiert, und, soviel ist klar, es wird den Blick auf den Nationalsozialismus nachhaltig verändern. Darauf weist auch Hans Mommsen in seinem geradezu euphorischen Nachwort hin. Mommsen ist einer der renommiertesten deutschen Historiker für die Zeit des Nationalismus, und er ist der Überzeugung, dass Ohlers Enthüllungen die Sicht auf das Dritte Reich nachhaltig verändern werden.

Der totale Rausch und der flächendeckende Einsatz von Drogen erklären nicht das schreckliche Phänomen des Nationalsozialismus und sie sind selbstverständlich auch keine Entschuldigung für die damals verübten Verbrechen; aber sie liefern einen weiteren Baustein zum Verständnis, wie diese dunkelste Zeit der deutschen Geschichte möglich war. Wenn mehr oder weniger ein ganzes Volk „auf Droge“ ist, sind bizarre Verhaltensweisen und exzessive Gewaltorgien leichter zu verstehen.

Über das Dritte Reich ist alles gesagt. Die Wissenschaft hat in den letzten siebzig Jahren, so scheint es, das Phänomen des Nationalsozialismus von allen Seiten beleuchtet und das Feld der Erkenntnisse vollständig abgegrast, so scheint es. – Und jetzt das!

Die meisten Fakten, die Ohlers Buch präsentiert, würden perfekt in das Drehbuch zu einem abgefahrenen Film passen: Die Nationalsozialisten haben Drogen in nationalem Umfang missbraucht, haben professionelle Drogenküchen eingerichtet und in großem Stil die eigene Bevölkerung und das Militär mit Drogen versorgt. Sie haben Metamphetamin produziert, besser bekannt unter dem Namen Crystal Meth. Sie haben mit Hilfe dieser Hallo-wach-Droge ihre Blitzkriege geführt.

Dies sind nur einige der vielen verblüffenden Entdeckungen, die Norman Ohler gemacht und jetzt in seinem Buch „Der totale Rausch“ bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht hat. In der Tat, so erzählt er in seinem Gespräch mit kulturbuchtipps, stand am Beginn dieses Buches die Idee, mit einem Freund ein Drehbuch über die enge Verbindung der Nazis zu den Drogen zu schreiben. Doch schnell merkte er, dass er ein Sachbuch schreiben wolle; die wenigen Fakten, die ihm zu Ohren kamen, veranlassten Ohler zu einer Recherche, die am Ende fünf Jahre dauern sollte. Die verblüffenden Ergebnisse dieses Buches rechtfertigen diesen Aufwand.

In „Der totale Rausch“ zeichnet der Autor die gesamte Entwicklung der engen Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und seinem Drogenkonsum während der zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches nach. Doch sein Buch setzt noch früher ein und beschreibt die Anfänge der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Anfänge der chemischen Industrie im deutschen Kaiserreich muten aus heutiger Sicht seltsam an. Substanzen, die heute wie selbstverständlich verboten sind, wurden seinerzeit unverkrampft eingesetzt und für gesundheitliche Zwecke verordnet. Auf diese Weise wurden sowohl gute als auch schlechte Drogen entwickelt; es wurde gemacht, was technisch möglich war, und diese Sorglosigkeit im Umgang mit unbekannten Substanzen erinnert an die Gentechnologie heutiger Tage. Felix Hoffmann, ein junger Chemiker entwickelte zum Beispiel die Acetylsalicylsäure (Aspirin), und nur zehn Tage später Heroin.

In den 1920er Jahren produzierten die deutschen Unternehmen Merck, Boehringer und Knoll ungefähr 80 % des weltweiten Kokains, die Produktion von 91 Tonnen Morphin deckte etwa 40 % des Weltmarkts, und 1926 war Deutschland Exportweltmeister für Heroin mit 98 % der Herstellung. Zu Beginn der NS-Zeit war Deutschland somit der unangefochtene Drogendealer der Welt für synthetische Drogen.

Das bigotte Verhältnis der Nationalsozialisten zum Drogenkonsum zeigte sich einerseits in einem reichhaltigen Konsum auch stärkster Drogen bei Hitler, Himmler, Göring, Goebbels und anderen Vertreter der Führungsriege sowie im großzügigen Einsatz von Pervitin, und andererseits in einer vor allem durch den Reichsgesundheitsführer Leo Conti groß angelegten Kampagne zur Bekämpfung der so genannten Vergnügungsgifte, mit der man gleichzeitig die Juden und andere „Volksschädlinge“ bekämpfte.

Die Temmler-Werke unter der Leitung von Dr. Hauschild in Berlin-Treptow waren bald in der Lage, einen synthetischen Stoff in einer bislang unerreichten Reinheit zu produzieren, der aufgrund seiner erstaunlichen, wach machenden Wirkung unter dem Spitznamen Weckamin bekannt wurde: Metamphetamin. Derselbe Stoff wird auch heute wieder, allerdings in einer kristallinen, stark verunreinigten, mit Benzin und ähnlichen Rückständen verschmutzten und mit starken Nebenwirkungen versehenen Variante als Droge vertrieben: Crystal Meth.

Unter dem Produktnamen Pervitin kam Metamphetamin auf den Markt und wurde schnell zu einer neuen Volksdroge. Wer in seinem Beruf stark beansprucht war, konnte mit Hilfe von Pervitin deutlich konzentrierter arbeiten und länger durchhalten. Sogar Hildebrand-Pralinen wurden mit Metamphetamin angereichert. Da jede Praline jedoch mit 13 mg in etwa die vierfache Dosis einer Pervitin-Tablette enthielt, wurden sie bald wieder vom Markt genommen; man konnte es einfach nicht verantworten, dass die deutsche Hausfrau nach dem Verzehr nur einer einzigen Praline mindestens 14 Stunden hellwach blieb und am Rad drehte…

Aufgrund seiner stark aufputschenden und gleichzeitig euphorisierenden Wirkung wurde Pervitin vor allem für das Militär zu einem hochinteressanten Stoff. Es öffnete die Synapsen für die Einschüttung von Dopamin und Adrenalin und war deutlich effizienter als das von den Briten entwickelte Benzedrin oder andere Wachmacher. Die militärische Karriere von Pervitin war unter der nationalsozialistischen Kontrolle vorgezeichnet.

Neben dem massenhaften (bewussten und unbewussten) Konsum von Metamphetamin in der Zivilbevölkerung und vor allem beim Militär beschäftigt sich Ohlers Buch mit dem Drogenkonsum Adolf Hitlers. Allein dieser großer Abschnitt entwirft durch die Augen von Hitlers Leibarzt, Theo Morell, einen neuen und sehr intimen Blick auf die existenzielle Abhängigkeit des Führers von einem teuflischen Medikamenten-Mix, der immer stärkere Dosen und Stimulanzen benötigte, die seinen Körper zerstörten.
Jenes Kapitel der chemischen Kriegsführung nimmt seinen Anfang in einer Promi-Praxis am Kurfürstendamm. Theodor Morell hatte sich in den späten 1920er Jahren zu einem Vitamin-Spezialisten entwickelt, auf dessen Dienste die High Society der Filmschauspieler, der Politik und der Wirtschaft nicht mehr verzichten wollte. Morell hatte sich durch selbst kreierte Vitamin-Präparate einen Namen gemacht, die er selbst injizierte. Als der Spritzen-Doktor vom Kurfürstendamm auch mit führenden Kreisen der NSDAP in Berührung kam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er Hitler kennenlernte.

Hitler hatte zeitlebens gesundheitliche Probleme. Obwohl er sich bewusst vegetarisch ernährte, litt er unter häufigen starken und schmerzhaften Blähungen, Erschöpfungszuständen und anderen Symptomen. Jahrelang konnten ihm die Ärzte nicht helfen. Morell führte Hitlers Beschwerden schnell auf eine erkrankte Darmflora zurück und verschrieb ihm Mutaflor; kurz danach ließen die Beschwerden nach, und Morell hatte das Vertrauen des Gröfaz, des „größten Führers aller Zeiten“, gewonnen.

Morell wurde Hitlers Leibarzt und kümmerte sich fortan rund um die Uhr um „Patient A“. Er sollte Hitler bis kurz vor seinem Selbstmord im Führerbunker begleiten. Morell hat somit den wahrscheinlich größten Verbrecher der Menschheit über mehrere Jahre medizinisch betreut und war ihm näher als jeder Andere. Ohler hat Morells Tagebücher und ärztliche Notizen genauestens studiert und ermöglicht uns auf diese Weise einen Einblick in jene abgeschottete Welt der Führerbunker im Osten und Westen, die einen drogenabhängigen, desorientierten Despoten zeigen, dessen Körper nach und nach durch die ihm permanent zugeführten Drogen zerstört wurde.

Als der Weltkrieg begann, waren die Blitzkriege der deutschen Wehrmacht für die Welt ein Schock. Die deutschen Soldaten stürmten in einer Geschwindigkeit und Entschlossenheit nach vorne, wie man sie noch nie gesehen hatte. Die Erklärung ist ganz einfach, wenn man die chemischen Hintergründe kennt. Es war der massenhafte Einsatz von Metamphetamin, der aus normalen deutschen Soldaten drogengesättigte Kampfmaschinen machte, die mehrere Tage und Nächte ohne Pause durchmarschieren, kämpfen und morden konnten. Aktuelle Studien zeigen, dass „zwei Drittel derjenigen, die Crystal Meth exzessiv konsumieren, nach drei Jahren an Psychosen“ leisen. Da Crystal Meth mit dem Metamphetamin des Pervitin wirkidentisch ist, muss man davon ausgehen, dass spätestens beim Russlandfeldzug bereits weite Teile der deutschen Wehrmacht unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Drogen kämpften. Ihre psychotischen Zustände mögen auch als eine weitere Erklärung für manche Gräueltaten dienen.

Selbst Hitler wurde vom atemberaubenden Tempo der Blitzkriege überrascht und versuchte, mit medizinischer Unterstützung mitzuhalten. Die Heeresführung schien ihm zu entgleiten, und so fiel er immer wieder bis zum Untergang einsame Einzelentscheidungen, die auf die Kritik der Generäle stießen, was aber natürlich nichts änderte. Um seinen eigenen Kontrollansprüchen gerecht zu werden, ließ sich Hitler immer häufiger mit aufputschenden Vitaminspritzen behandeln. Das von Morell entwickelte Vitamultin war ein Komplex aus tierischen Wirkstoffen, das Hitler mitunter mehrmals am Tag gespritzt bekam. Doch es sollte noch absurder werden.

Ab Herbst 1941 wurde der Verfall von Hitlers Körper immer offensichtlicher. Die jahrelange Überanstrengung sowie seine einseitige Lebensführung, die im Verlauf des Krieges immer öfter auch den Rückzug in luftleere und lichtarme Bunkeranlagen bedeutete, beschleunigten den körperlichen Verfall. Sein Leibarzt reagiert darauf mit einer Polypragmasie und der regelmäßigen Gabe eines prophylaktischen Drogen-Cocktails, der es in sich hatte: Hitler erhielt bald regelmäßig über 80 verschiedene, häufig unkonventionelle und unerforschte Hormonpräparate.

Um im Krieg genügend Nachschub für seinen „Patienten A“ zu bekommen, wurde Morell zum Produzenten. Die oberste Regel jedes Dealers, die Versorgung des Kunden mit Drogen niemals zu unterbrechen, kaufte Morell eine zu arisierende Speiseöl-Fabrik in Olmütz im besetzten Polen sowie einen ukrainischen Schlachthof in Winniza. Die dort bei den Schlachtungen massenhaft anfallenden Eingeweide wurden fortan in Morells eigenen Ukrainischen Pharmo-Werken zur Herstellung von „organotherapeutischen Medikamenten“ verwendet, deren prominentester Abnehmer Patient A war. Ironie der Geschichte: Auf diese Weise spritzte Morell dem überzeugten Abstinenzler und Vegetarier Hitler jeden Tag mehrmals einen oftmals unter katastrophalen hygienischen Bedingungen aus Tierkadavern gewonnenen Hormonkomplex.

Dennoch verschlechterte sich Hitlers Gesundheitszustand weiter. Um Hitlers starke Schmerzen zu lindern, verabreichte Morell seit 1943 immer öfter Eukodal, ein Betäubungsmittel der Firma Merck, das stärker als Morphin wirkt. Während die IG Farben in Deutschland die Betäubungsmittel Methadon und Polamidon entwickelten, setzte die Firma Merck in Darmstadt auf Eukodal und wurde seinerzeit durch den Kauf einer Firma im besetzten Riga zum wichtigsten deutschen Opium-Produzenten.

Eukodal war jedoch nicht nur beim Führer beliebt, sondern wurde auch von seinen engsten Mitarbeitern immer öfter konsumiert. Wer krank, schlaff oder gar uninspiriert wirkte, war schnell weg vom Fenster. Wer zu den zermürbenden Lagebesprechungen geladen war, bei denen Hitler in stundenlangen Monologen vor sich hin phantasierte, „brauchte ein solides pharmakologisches Stützkorsett, um diese Treffen heil zu überstehen“, wie Ohler anschaulich beschreibt.

Als die Erschöpfungszustände des Führers immer häufiger wurden, brauchte er ein pharmakologisches Gegengift zu seinen Hormonpräparaten und dem täglichen Eukodal. Morell putschte Hitler nun regelmäßig mit Kokain auf und machte ihn hierdurch zum „Speedball“: Kokain putscht auf, Eukodal betäubt. Der Patient springt fortan wir ein Ball zwischen zwei Extremen hin und her, und seine Gesundheit bleibt auf der Strecke. Durch die unzähligen Spritzen waren Hitlers Venen kaputt, die Narben konnten nicht mehr schnell genug abheilen, und es bildeten sich so genannte „Reißverschluss-Venen“. Weil das ständige Auf und Ab der Drogen den körperlichen Rhythmus vollends aus dem Takt brachte, bekam Hitler zur Nachtruhe zusätzlich Barbiturate wie Luminal oder Quadro-Nox. Eukodal wurde Hitlers „Endzeitdroge“, die seine Selbstüberschätzung noch weiter verstärkte.

Um das letzte Aufgebot der Marine für den Einsatz in den Wunderwaffen der Klein-U-Boote sowohl mental als auch körperlich fit zu machen für die Strapazen, welche ein oft tagelanger Einsatz mit sich brachte, setzte man auf einen ganz besonderen Cocktail. Unter dem internen Namen D IX wurde den U-Boot-Führern versuchsweise eine wirklich teuflische Mischung verabreicht: Kokain, Eukodal, Pervitin und Dicodid (ein halbsynthetisches Morphin-Derivat) hatten sich in einem bestimmten Mischungsverhältnis bei Menschenversuchen im KZ Sachsenhausen in der so genannten „Pillenpatrouille“ als besonders effiziente Dröhnung erwiesen.

Dr. Orzechowskis erklärtes Ziel war es damals, „den Mann zum Raubtier zu machen“ und auf diese Weise die unter dem Namen Seehund gebauten Kleinst-U-Boote zur Wunderwaffe der Marine zu machen. Die stark halluzinierende Wirkung dieses mentalen Kampfstoffes brachten es zum Ende des Krieges mit sich, dass die meisten Versuchspersonen samt ihren Kleinst-U-Booten namens Seehund die Orientierung verloren, nach einer Weile spurlos im Atlantik verschollen sind und niemals zum Einsatz kamen.

Je weiter der Krieg in die unausweichliche Niederlage des Dritten Reiches führte, desto häufiger floh Hitler vor der der vernichtenden Realität in die Scheinwelt der Drogen. Bald schottete er sich komplett von der Außenwelt ab, und Morell war oft der Einzige, der ihn noch täglich zu sehen bekam. Je weiter der körperliche Verfall voranschritt, desto höher musste die Dosis der Drogen sein, die ihn wahlweise aufputschen oder betäuben sollten. Und auch die chemische Kriegsführung wurde bis zuletzt vorangetrieben. Ganz am Ende jedoch blieben die Medikamentenlieferungen aus Berlin aus. Es gab keinen Nachschub mehr, die Produktionsstätten waren zerstört. In seinen letzten Wochen befand sich Hitler auf kaltem Entzug. Es gab kein Eukodal mehr, und Morell spritzte Placebos oder Zuckerlösungen, die kurzfristige Erleichterung brachten. Der körperliche und seelische Zusammenbruch Hitlers vollzog sich simultan zu dem seines Reiches. Die Russen waren ganz in der Nähe der Reichskanzlei, als Hitler zunächst seinen Schäferhund Blondi vergiftete, dann seine Langzeit-Geliebte und Kurzzeit-Gattin Eva Braun erschoss und schließlich sich selbst das Leben nahm.

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit einer unglaublichen Geschichte, die mit dem Untergang des Dritten Reiches noch lange nicht beendet war: Im KZ Dachau wurde Häftlinge Meskalin verabreicht, um neue Verhörmethoden zu erproben. Der für diese Menschenversuche verantwortliche Dr. Plötner konnte seine Testreihe nicht mehr zu Ende führen; bei der Befreiung des KZ Dachau fielen alle Unterlagen in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes und stießen dort auf lebhaftes Interesse. Die Amerikaner führten Plötners Versuchsreihen am Beginn der 1950er Jahre während des Koreakrieges unter dem Namen „Project Chatter“ weiter. So wurden auch die Ergebnisse jener Drogenversuche der Nazis im KZ Dachau, ähnlich wie die Raketen-Technologie der Nazis im US-Raumfahrt-Programm unter Wernher von Braun, von amerikanischen Wissenschaftlern dankbar ausgewertet und fortgeführt.

Man könnte jetzt noch stundenlang so weiter erzählen, aber ich breche hier ab. All diese unglaublich klingenden Geschichten hat der Autor in seiner fünfjährigen Beschäftigung mit seinem Thema zusammengetragen. Norman Ohlers Buch über den „totalen Rausch“ liest sich wie ein Krimi, aber es handelt sich um Fakten. Das muss man sich während der Lektüre immer wieder klar machen. Es gehört zu Ohlers großen Verdiensten, uns nicht nur eine völlig neue Sicht auf die Zeit und das Leben im Nationalsozialismus vermittelt zu haben, sondern gleichzeitig auch die Erkenntnisse seiner Nachforschungen in einer Weise darzustellen, die die Zusammenhänge verständlich machen und den Leser nicht mehr los lassen.

Lesen Sie dieses Buch, auch wenn Sie vielleicht denken, über den Nationalsozialismus sei alles gesagt. Auch heute, siebzig Jahre nach seinem Ende, müssen wir uns mit diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte auseinander setzen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wer Norman Ohlers Buch liest, wird diese Zeit mit anderen Augen sehen. Auch der „totale Rausch“, der während der zwölf Jahre der Hitlerzeit die deutschen Hirne vernebelte, kann die unfassbaren Verbrechen der Nazizeit nicht erklären, aber er lässt uns verstehen, unter welchen Ausnahme-Bedingungen jene Unfassbarkeiten geschehen konnten.

Ohlers Buch verändert nicht nur das Bild, das wir bislang vom Nationalsozialismus hatten, wie Hans Mommsen schreibt, sondern es präzisiert und vervollständigt dieses Bild. – Allein deswegen lohnt die Lektüre.

Lesen Sie auch unser Interview mit Norman Ohler auf der Frankfurter Buchmesse 2015!

 

Autor: Norman Ohler
Titel: Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich“
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462047337
ISBN-13: 978-3462047332

 

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