Richard David Precht: „Die Kunst, kein Egoist zu sein“
Am: | Juni 20, 2011
Als der österreichische Psychologe Josef Kirschner in den 1970er Jahren sein Buch „Die Kunst, ein Egoist zu sein“ auf den Markt brachte, wurde es umgehend zu einem Bestseller.
Endlich gab es jemanden, der den Menschen zeigte, dass die aufopfernde Sorge um das Allgemeinwohl, die Selbstaufgabe zugunsten der Rücksichtnahme auf die Belange der Anderen und die Selbstverleugnung zugunsten einer Wunscherfüllung unseres Nächsten nicht der Weisheit letzter Schluss und der letzte Schritt zur Vervollkommnung der menschlichen Entwicklung darstellen. Die Gesellschaft der Nachkriegsjahre bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts war geprägt von einer Philosophie des Altruismus und des Gemeinwohl-Gedankens.
Josef Kirschner zeigte den Menschen seiner Zeit, dass ein „gesunder“ Egoismus durchaus nicht gegen die Anderen gerichtet sein muss, jedoch dem eigenen Seelenheil förderlich sein kann. Vom gesunden Egoisten zum positiv denkenden Egomanen war es nicht mehr weit.
Mit den 1990er Jahren und der einsetzenden Wirtschafts-Hausse wurden diese lange gültigen Werte mehr und mehr zurück gedrängt und es bildete sich eine neue Form des Egoismus: der rücksichtslose Erfolgsmensch der Ellbogen-Geellschaft.
Der märchenhafte Aufstieg der New Economy, der wirtschaftliche Aufschwung am Anfang des 21. Jahrhunderts, aber auch die traumatischen Wendepunkte wie der 11. September 2001und die zunehmende Bedrohung durch den internationalen Terrorismus auf der einen Seite, die Neuen Medien und das Internet als Ausgrenzungs- und Abgrenzungswerkzeuge des Individuums auf der anderen Seite trugen zu einem bisher nie gekannten egoistischen verhalten in unserer Gesellschaft und zu einem schrankenlosen Individualismus bei.
Einen ersten Dämpfer erlebte dieser rücksichtslose Egoismus mit der Weltwirtschaftskrise gegen Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts.
Plötzlich war es wieder nötig, sich mit den Anderen zu beschäftigen, ja, man war zum Teil wieder aufeinander angewiesen. Arbeitsplatz und finanzielle Zukunft waren nicht mehr sicher, und das Ego bekam einen gehörigen Knacks.
Jetzt erscheint Richard David Precht auf der Bühne und erklärt uns die Kunst, kein Egoist zu sein. Wir haben es verlernt, die Anderen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn uns um die Anderen zu kümmern. Die weltweite Krise vereint, macht zu Leidens- und Schicksalsgenossen.
In seinem Buch macht Precht zunächst eine Bestandsaufnahme. Wer kein Egoist ist, möchte den Anderen etwas Gutes tun. Aber was ist gut und was ist böse? Diese Frage ist nicht ohne ihren moralischen und gesellschaftlichen Kontext zu beantworten. Richard David Precht ist Philosoph, und so beginnt er seine Analyse der Werte mit Platons Höhlengleichnis.
Wie immer in seinen Büchern spannt sich der bogen von der Philosophie über die Psychologie, Neurowissenschaften, Naturwissenschaften und Religion.
Precht ist einer der wenigen deutschen Autoren, die es schaffen, dem deutschen Sachbuch eine angloamerikanische Leichtigkeit zu verleihen, auch wenn das eigentliche Thema etwas spröde und schwer vermittelbar zu sein scheint. Ging es bei „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ vor allem um die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften und bei „Liebe – ein unordentliches Gefühl“ um – genau das, so stehen in seinem Buch soziale und gesellschaftliche Aspekte menschlichen Verhaltens im Vordergrund.
Der zweite Abschnitt des Buches behandelt die fragen des Wollens und Tuns. Jeder kennt das Problem, dass man etwas tun will, es aber nicht tut, weil man dafür einen triftigen Grund hat, den man aber gerade eben nicht plausibel erklären kann. Manchmal ist es auch umgekehrt. Auf jeden Fall besteht ein komplexer und komplizierter Wirkzusammenhang zwischen unserem Verhalten und unseren Absichten, den wir nicht immer gleich durchschauen.
Der wichtigste Teil des Buches ist der dritte: „Moral und Gesellschaft“. Wer keine Zeit hat, kann sich mit der Lektüre dieses letzten Abschnittes des Buches eine Menge Zeit sparen und trotzdem den Kern von Prechts Thesen vom guten Menschen mitnehmen. Dieser letzte Teil des Buches hat es allerdings in sich.
Mit wenigen Strichen zeichnet Precht ein Bild unserer heutigen Gesellschaft, das wenig schmeichelhaft ist. Doch es besteht Anlass zur Hoffnung, denn der Autor bleibt nicht bei einer Anklage heutiger Verhältnisse stehen, sondern gibt dem Leser eine Menge an guten Anregungen und Vorschlägen auf den Weg, wie man unsere Gesellschaft umgestalten und aus unserer Welt einen menschenfreundlicheren und lebenswerteren Ort machen könnte.
Wenn wir uns von dem Wahn des ständig wachsenden Wohlstands verabschiedeten und auf einem verantwortungsbewussteren Umgang mit den eigenen Ressourcen und den Rohstoffen der Welt Wert legten, könnte sich schon bald die Transformation unserer Gesellschaft von einer egozentrischen zu einer auf Gemeinwohl und Nachhaltigkeit hin orientierten Lebensweise vollziehen. Demokratisches Bewusstsein statt Politikverdrossenheit und ein auf Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit statt auf Eigennutz konzentriertes (Konsum-)Verhalten führten zu einer neuen Identifikation mit dem eigenen Umfeld sowie zu einem qualitativ deutlich stärkerem Selbst-Wert-Gefühl als eine egozentrierte Weltsicht.
Mit „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ trifft Richard David Precht mal wieder den Nagel auf dem Kopf und nimmt ein topaktuelles Thema auf, das uns alle angeht. In Zeiten konzeptloser Politik, die sich nur noch an Tagesthemen abarbeitet und schon lange den Kontakt zum Bürger verloren hat, sind die Eigeninitiative des Einzelnen und sein Engagement im kontextuellen Zusammenspiel mit den gesellschaftlichen Kräften mehr denn je gefragt.
Richard David Precht zeigt, wie es funktionieren kann, wenn wir alle wieder lernen, weniger Egoisten zu sein, sondern uns auch um die Belange unserer Nachbarn kümmern.
Autor: Richard David Precht
Titel: „Die Kunst, kein Egoist zu sein“
Gebundene Ausgabe: 544 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442312183
ISBN-13: 978-3442312184
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