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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Alfred Kerr: „Was ist der Mensch in Berlin? — Briefe eines europäischen Flaneurs“

Am: | Dezember 13, 2017

Schon als der junge Alfred Kerr 1886 in Breslau sein Abitur machte, war er bereits von der aufstrebenden Hauptstadt an der Spree in den Bann gezogen. Breslau war Provinz, trotz seiner immerhin 300.000 Einwohner, aber was war das schon im Vergleich zu den 1,3 Millionen, die damals schon in Berlin lebten?!

Knapp acht Jahre später hatte sich Kerr bereits als Kritiker und Journalist einen Namen gemacht, er schrieb für die Breslauer Zeitung, aber auch für die Neue Rundschau und das Magazin für Literatur. Er lebte seit einigen Jahren in Berlin und erlebte die Stadt in jener dynamischen Phase der Gründerzeit, in der es für alle Entwicklungen nur eine Richtung gab: nach vorne, nach oben.

Seinerzeit packten viele Menschen ihre Koffer, auch in Breslau, und zogen nach Berlin, um in der aufstrebenden Stadt ihr Glück zu machen, Arbeit zu finden und am großen Aufschwung teilzuhaben. Doch wer einmal in der Großstadt angekommen war, musste sich zunächst behaupten, seinen Platz finden, denn die Konkurrenz war groß. Wer ohne Beziehungen nach Berlin kam, hatte es oftmals schwer.

Alfred Kerr hatte schnell seinen Platz gefunden. Die Welt des Theaters, der Schriftsteller-Kreise und die „gute Gesellschaft“ wurden für ihn, den scharfzüngigen jungen Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, weil er ganz genau wusste, wie fundiert und treffsicher sein Urteil war, schon bald zur neuen Wahlheimat. Er genoss das Berliner Gesellschaftsleben in vollen Zügen, bewegte sich nicht nur in den oberen Kreisen, sondern unternahm auch Expeditionen in den armen Osten und die Berliner Unterwelt. Er wurde zum subjektiven Chronisten der gesellschaftlichen Ereignisse dieser zum Moloch heranwachsenden Großstadt und zum genauen Beobachter ihrer Verhältnisse.

Kerrs Berliner Briefe, die er für die Breslauer Zeitung schrieb, waren lange Zeit verschollen. Durch die Kriegswirren und die Flucht ins Exil wurde Kerrs Archiv nahezu komplett vernichtet. Nur noch wenige Exemplare der Berliner Briefe waren zu finden. Doch ihre literarische Qualität inspirierten den Herausgeber der S. Fischer-Ausgabe der Werke Alfred Kerrs, Günter Rühle, in Breslau nach weiteren Exemplaren dieser Briefe zu forschen. Er wurde in der Universitätsbibliothek Wrocław fündig, und dort half man ihm bei der Erschließung der Texte Kerrs für die Breslauer Zeitung.

Diese Arbeiten am Archiv sind immer noch nicht abgeschlossen: Deborah Vietor-Engländer, die jüngst eine hervorragende Alfred-Kerr-Biographie geschrieben und auch das vorliegende Buch herausgegeben hat, ist zurzeit mit der Aufbereitung jener späteren Briefe beschäftigt, die Kerr bis 1922 für diese Zeitung und die Königsberger Allgemeine Zeitung in Berlin verfasste.

Die Berliner Briefe bis 1900 wurden bereits vor einigen Jahren in zwei Taschenbuchausgaben veröffentlicht. Wo liegt Berlin? und Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? erschienen Ende der 1990 Jahre im Aufbau-Verlag und sind schon lange vergriffen. Die vorliegende Neuausgabe ist eine Zusammenstellung der schönsten und interessantesten Briefe aus jener Zeit von 1894 bis 1900. Man kann diese Briefe sehr gut hintereinander lesen und sollte dies auch tun. Es sind kurze und pointierte Streiflichter der Gesellschaft und Kultur jener Zeit, im besten Sinne ein Sittenbild der Berliner Gesellschaft um 1900.

Diese Ausgabe ist mit einem umfangreichen Anhang versehen, in dem zahlreiche Anmerkungen und Erläuterungen wichtiger Begriffe und Begebnisse zum besseren Verständnis beitragen. Da sich Alfred Kerrs Briefe wie ein Who is Who der Gesellschaft und Kultur der Kaiserzeit lesen, hilft ein umfangreiches Personenregister bei der Auffindung personenbezogener Passagen.

Berlin hat in jenem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Schritt genommen von dem preußischen Garnisonsstädtchen zum Epizentrum der deutschen Gründerzeit. Anfang des 20. Jahrhunderts folgte dann der Aufstieg in die 1. Liga der Metropolen der Welt — jene kurze Phase der „Weltstadt Berlin“ mit globaler Bedeutung, nach der sich die Stadt auch heute noch oft zurücksehnt.

Als Alfred Kerr seine Berliner Briefe 1894 zu schreiben begann, lebten die Menschen in einer Phase des Aufbruchs und der Zuversicht. Quer durch alle Stände und Klassen war jene Zeit von einem kollektiven Gefühl der Hoffnung geprägt: bei den Reichen durch die Hoffnung, den eigenen Wohlstand noch weiter vermehren zu können; bei den Armen durch die Hoffnung auf ein besseres Leben in den Städten und auf die Beseitigung des sozialen Elends.

Auch kulturell war es eine Zeit des Umbruchs, des Aufbruchs vor allem, in der Theater und Literatur mit dem aufkommenden Naturalismus etwas Radikales und Neues wagten, das weit über die konstruierten Wirklichkeiten des Realismus hinausgingen. Naturalistische Dramen zeigten plötzlich ganz ungeschönt und direkt das Elend der unteren Schichten, die Skrupellosigkeit der herrschenden Klasse und die große Kluft zwischen Arm und Reich.

In jener turbulenten Zeit waren auch Skandale fast schon an der Tagesordnung, und so gab es jede Menge spannender Betätigungen für einen jungen Theaterkritiker wie Alfred Kerr. Dieser nahm in seinen Kritiken wie in seinen Briefen kein Blatt vor den Mund, denn er war sich der fachlichen Qualität seines Urteils jederzeit bewusst. Doch in seinen Berliner Briefen ging es ihm nicht in erster Linie um das Bühnenleben im Theater, sondern um das Leben auf der Berliner Bühne der Straße und Plätze, der Cafés und Salons, der Soireen der feinen Gesellschaft, aber auch der Vergnügungen der normalen Berliner bei Tag und bei Nacht.

So wird Alfred Kerr mit seinen Briefen zum Stadtchronisten Berlins am Ende des 19. Jahrhunderts. Die vorliegende Auswahl eröffnet uns einen bunten Reigen faszinierender Streiflichter, ein ganzes Panorama dieser explodierenden Stadt mit ihrem Tempo, ihren Menschen, die, immer in Bewegung, an eine bessere Zukunft glauben, etwas erreichen wollen, sich einen Namen oder einfach nur ihr Glück in dieser Stadt machen wollen.

Bei der Lektüre dieser Briefe können wir teilhaben an den Träumen und Hoffnungen, den großen und kleinen Fluchten dieser aufstrebenden Gesellschaft, und während wir diese Berichte aus einer längst untergegangenen Welt lesen, bekommen wir eine leise Ahnung davon, wie es gewesen sein muss, vor über 100 Jahren in dieser Stadt zu leben und lieben, zu hoffen und zu wagen.

 

 

Autor: Deborah Vietor-Engländer (Hg.), Alfred Kerr
Titel: „Was ist der Mensch in Berlin? — Briefe eines europäischen Flaneurs“
Gebundene Ausgabe: 375 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN-10: 3351036922
ISBN-13: 978-3351036928

 

 

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