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Philipp Blom: „Gefangen im Panoptikum – Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart“

Am: | April 18, 2017

Das Panoptikum ist eine englische Erfindung. Jeremy Bentham machte sich im 19. Jahrhundert Gedanken über Gefängnisse. Die optimale Gefängnis-Architektur ermöglichte die bestmögliche Überwachung der größtmöglichen Zahl von Gefangenen. Bentham nannte seine Erfindung passender Weise „Panoptikum“.

Es wurden nicht viele Panoptiken gebaut, und noch weniger Exemplare sind heute noch erhalten. Philipp Blom hat ein solches Panoptikum auf Kuba entdeckt, es ist das halb zerfallene Presidio Modelo, in dem einst auch Fidel Castro einsaß, bevor er die Kubanische Revolution initiierte.

Die in einem weiten Rund angeordneten Zellen waren zum Mittelpunkt des Kreises hin offen und nur durch Gitter gesichert. In der Mitte dieses weiten Kreises stand ein Wachturm, der durch einen unterirdischen Gang zugänglich war und von dem aus ein unsichtbarer Wächter jederzeit in alle Zellen schauen und deren Insassen kontrollieren konnte.

Was sich wie eine sadistische Allmachtfantasie anhört, ist heute in digitaler Form Wirklichkeit geworden. In den sozialen Medien und im Internet insgesamt hinterlassen wir ständig Spuren, sind sichtbar für alle, die es wollen. Wir leben in gläsernen Verhältnissen, Transparenz ist die Grundvoraussetzung der schönen digitalen Welt, und unsere Daten sind das Kapital, mit dem wir zahlen.

Hören wir vom Panoptikum (oder: Panopticon) in kulturwissenschaftlicher Hinsicht, so muss automatisch der Name Michel Foucault fallen. Foucault hat in seinem Buch Überwachen und Strafen (1975) diese Gefängnisarchitektur ausführlich beschrieben und hat sich mit der Entwicklung der modernen Strafsysteme in Frankreich und England im frühen 18. Jahrhundert beschäftigt. Natürlich erwähnt Blom auch Foucault und seine Arbeit in seinem Essay, aber der Schwerpunkt seines Interesses liegt woanders; Blom geht es um das moderne Panoptikum, in dem wir alle sitzen, sobald wir uns in der digitalen Welt (und nicht nur dort) bewegen.

Der Historiker Philipp Blom ist ein brillanter Essayist. Er hat jetzt einen knapp hundert Seiten langen Essay über unsere Gegenwart geschrieben. Es ist eine weitere Streitschrift für die Ideale der Aufklärung und gegen die omnipräsente Dummheit. Trotz aller vornehmen Zurückhaltung spürt man die Wut im Bauch, mit der dieser Text in die Maschine getippt wurde. Hat man zuvor Harald Welzers Kampfschrift gegen die „Smarte Diktatur“ gelesen, so schließt sich dieser Text, der die Dinge aus der Sicht eines Historikers betrachtet, nahezu nahtlos an.

Blom zieht eine Bilanz der zweihundertjährigen Geschichte der Aufklärung und konstatiert, dass wir uns seit einiger Zeit auf einem Weg befinden, der uns immer weiter von den Zielen der Aufklärung – so unter Anderem den Austritt des Menschen aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – wegführt.

Was ist geschehen? Wie kann es sein, dass die Flucht in den Schoß der Kirche wieder zu einer ernsthaften Option werden kann? Was ist mit uns los, dass wir uns freiwillig wieder unter das Joch der Kirche begeben, das wir durch die Aufklärung so mühsam abgeworfen haben? Wie ist es möglich, dass Fundamentalisten aller Couleur so viel Zulauf haben, vor allem von jungen Menschen?
Der Autor nähert sich dem Gegenstand seiner Untersuchung auf dem Umweg über die Architektur. Das Panoptikum, der Turmbau zu Babel, das Gefängnis – sind die drei metaphorisch reflektierten Architekturen, an denen entlang Blom seine Kritik der Gegenwart entwickelt. Diese kritische Bestandsaufnahme führt uns mitten hinein in eine kalte und hoffnungslose Gesellschaft, die sich im Schatten der Globalisierung ganz dem Konsum hingegeben hat.

Wir werden zugeschüttet mit Informationen, und wir sind immer weniger in der Lage, die Spreu vom Weizen zu trennen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, und für uns selbst zu entscheiden, was wir eigentlich wollen. „Was aussieht wie die rationale Entscheidung eines informierten Konsumenten, ist tatsächlich das Resultat lebenslanger, engmaschiger Verführungsstrategien.“

Dabei ist Blom vollkommen klar, dass die Welt des Konsums „eine totale Missgeburt [ist], das Resultat einer schrecklichen Paarung von Staatsreligion und industrieller Massenproduktion“. Seitdem der neoliberale Turbo-Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der sozialistischen Staaten immer mehr an Fahrt aufgenommen hat, werden wir immer mehr zu freiwilligen Insassen eines riesigen globalen Shopping-Panoptikums. Die Türen sind nicht verschlossen, doch wir denken gar nicht daran, unsere schönen und bequemen Zellen zu verlassen.

Das Problem unserer Zeit ist unsere Saturiertheit. Wir sind aufgewachsen in einer Gesellschaft, die geprägt war von Wohlstand, Demokratie und Sicherheit. Seien wir ehrlich: Nach dem Fall der Mauer und der globalen Aufbruchsstimmung in den 1990er Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, dass religiöser Fanatismus, Terrorismus und nationalistische Anti-Demokraten ernsthafte Gefahren werden könnten.

Plötzlich jedoch scheint alles in Frage gestellt werden zu können: Der Wohlstand ist in Gefahr, weil das neoliberale Mantra vom ewigen Wachstum zu immer neuen „Blasen“ führt, die in immer kürzeren Abständen platzen und die Mehrheit immer ärmer machen. Die Sicherheit ist in Gefahr, weil Kriege heutzutage nicht mehr nur in fernen Regionen der Erde toben, sondern durch Terrorismus und Internet bis in unser zuhause getragen werden. Und die Demokratie ist immer häufiger in Gefahr, durch fremdenfeindliche, populistische und nationalistische Bewegungen für ihre Zwecke missbraucht zu werden.

Unsere Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde einst hart erkämpft. Unser eigentliches Problem ist, dass wir selbst nie darum kämpfen mussten, weil demokratische Verhältnisse zur Grundausstattung unseres schönen Lebens gehörten. Doch Demokratie ist eben keine Selbstverständlichkeit! Was ist unsere Demokratie wert, wenn wir uns nicht aktiv für sie einsetzen und sie gegenüber antidemokratischen Kräften verteidigen?

Doch zurück zu Philipp Bloms Essay: „Überall wird uns zugeraunt, wir sollten uns verwöhnen, gut sein zu uns, uns etwas gönnen, weil wir es wert sind […]. Wir sind es wert, weil wir funktionieren, mitschnurren im System, weil wir eine Kreditkarte besitzen.“ Das kapitalistische System existiert längst nicht mehr außerhalb unserer selbst, wir haben es längst inkorporiert, es verinnerlicht und zum Zentrum unseres eigenen Denkens und Handelns gemacht. Keine Zeit vor uns war perfekter an das System angepasst, keine Generation war williger ein Teil der globalen Maschinerie der Warenströme. Aber es ist ja auch so schön bequem: „Das Kerker-Panoptikum ist eine Shopping Mall geworden, aber den Ausgang aus der Unmündigkeit will niemand suchen.“

Das Problem ist nur, dass die Geschichte, die wir uns von uns selbst erzählen, eine zutiefst hoffnungslose Geschichte ist. Die alten Geschichten von Hoffnung, Wachstum, Frieden und Fortschritt, mit denen wir aufgewachsen sind, sin längst zu leeren Versprechungen geworden.

So haben wir uns schließlich selbst „zu Markwesen umerzählt, zu rationalen Akteuren und Service Providers, zu Konsumenten und Kommunikanten beim Hochamt der kommerziellen Transzendenz.“ Denn die Shopping-Religion ist das einzig Tragfähige, was uns heute geblieben ist, was uns zusammenhält: Wir haben nur noch die eine Hoffnung auf eine durch den permanenten und gesteigerten Konsum zu erzeugende kommerzielle Transzendenz-Erfahrung. Wir schaffen uns unser Gotteserlebnis, indem wir grenzenlos shoppen.

„Viertausend Jahre organisierte Religion, vierhundert Jahre Aufklärung – und wir verhalten uns im Kollektiv noch immer genau wie Bakterien. Ein Organismus breitet sich aus, weil er kann, weil er einen evolutionären Vorteil hat, weil er stärker ist.“ Dabei wissen wir ganz genau, dass die fundamentalen Glaubenssätze unserer Konsum-Religion vom unbegrenzten Wachstum nicht mehr stimmen, und wir wissen, dass der Mythos vom ewigen Fortschritt eine Lüge ist. Es wäre also auch unsere Aufgabe, ein Umdenken in Gang zu setzen, die Maschine abzubremsen, die Geschichte umzudenken. Nur so können wir dem drohenden und sehr realen Untergang vielleicht noch entkommen.

Bloms Essay ist mitreißend geschrieben und hat das Zeug, eine der wichtigsten Streitschriften unserer Zeit zu werden. Brillant geschrieben, verständlich und mit Verve formuliert, fasst Philipp Blom die Conditio unserer Zeit zusammen. Doch es gibt leider auch einen Punkt, an dem man Abstriche machen muss: Das letzte Kapitel – überschrieben mit „Bericht eines Ingenieurs“ – ist sicherlich ein interessantes literarisches Experiment, doch steht dieser Text völlig diametral zum Vorigen, versucht in einer literarischen Fiktion, den Turmbau zu Babel, mit dem der Autor seinen Essay beginnen lässt, aus der Sicht eines Ingenieurs zu reflektieren.

Das ist vielleicht gut gemeint, und sicherlich ist diese Reflexion dem Autor selbst sehr wichtig, sonst hätte er nicht auf die Veröffentlichung dieses Resümees gedrängt. Gleichwohl wäre der Essay noch prägnanter ohne diesen Ausklang. – Für den Leser stellt dieser kleine Makel kein Problem dar: Lesen Sie den Text einfach nur bis zur Seite 77 und nicht bis 95, und Sie werden einen tiefen Einblick in die fundamentalen Dilemmata erhalten, in die unsere Gegenwart verstrickt ist.

 

Autor: Philipp Blom
Titel: „Gefangen im Panoptikum – Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart“
Taschenbuch: 96 Seiten
Verlag: Residenz
ISBN-10: 3701734186
ISBN-13: 978-3701734184

 

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