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Christina Templin: “Medialer Schmutz — Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914“

Am: | November 11, 2016

Christina Templin: “Medialer Schmutz — Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914“Aus heutiger Perspektive mögen wir die Moralvorstellungen der Zeit des Deutschen Kaiserreichs belächeln und den Kopf schütteln über die Auslöser jener Skandale, die seinerzeit die Menschen beschäftigt haben. Trotzdem vollzog sich in jener wilhelminischen Gesellschaft, die ihr Augenmerk scheinbar so sehr auf Ordnung und Disziplin richtete, hinter den Kulissen ein Sittenwandel, der vor allem in seiner Medialität interessant und einer genaueren Untersuchung wert ist.

Ein enggefasster Kulturbegriff der „Hochkultur“, wie er vor über 100 Jahren sehr en vogue war, basiert auf einer klassischen definitio ex negativo: alles, was nicht dazugehören sollte, wurde als „niedrig“ angesehen, als seichte „Unterhaltung“ und — am anderen Ende des Spektrums — als „Schmutz“ und „Schund“. Die Unterscheidung von Schund und Schmutz zielt auf den Bereich des Sexuellen. Was als kultureller Schund in Bild, Ton und Schrift den Intellekt beleidigte, fand im Schmutz der Pornographie seine sexuelle Spielart.

Seinerzeit war zwar nicht alles verpönt, was den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Nackte, das Körperliche und das Sexuelle lenkte, doch die künstlerische Auseinandersetzung mit der Sexualität hatte in den Medien der Kaiserzeit naturgemäß keinen Platz. Gleichwohl galt Nacktheit als akzeptabel, solange sie z. B. unter dem Deckmantel der „Schönheit der Natur“ präsentiert wurde.

Die Zeit um 1900 war von vielen fortschrittlichen Strömungen geprägt. Nicht nur der Naturalismus, auch die Lebensreform, der Jugendstil und andere Bewegungen deuten auf eine verstärkte Hinwendung zum Neuen hin — eine Tendenz, die den konservativen Kräften des etablierten Bürgertums diametral gegenüberstand. Gerade im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung durchlief die deutsche Gesellschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Modernisierungsschüben, die auch Einfluss auf die Moralvorstellungen sowie auf soziale Praktiken hatte.

„Städtische Lebenswelten und die Physiognomien der Städte wandelten sich rapide“, scheibt die Autorin in ihrer Einleitung. Wirtschaftliches Wachstum, technische Erfindungen und eine allgemeine Aufbruchsstimmung sind für jene Epoche charakteristisch, die man als Gründerzeit bezeichnete. Wenn die Zeichen der ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und demographischen Rahmenbedingungen auf Wachstum stehen und überkommene Werte “aufgebrochen“ werden, machen diese Entwicklungen auch nicht vor den moralischen und sozialen Rahmenbedingungen Halt.

Die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse wurden nicht nur begrüßt, sondern auch von vielen kritisch gesehen und bekämpft. Es entwickelte sich ein gesellschaftlicher Diskurs über die Modernisierung und Urbanisierung, ihre Chancen und Gefahren. Viele dieser Diskurse wurden in neuen Medien ausgetragen: allen voran in Zeitschriften und anderen Druckmedien.

Die sexuellen Skandale um 1900 (vor allem in Berlin und München) fanden vor dem Hintergrund einer reichen medialen Landschaft statt. In diesen Medien wurde nicht nur der Skandal selbst hervorgerufen (Aktfotografie, Pornografie usw.), sondern auch die Diskussionen über jene Skandale fanden ihren Niederschlag und Ausdruck in den Medien.

Christina Templin legt eine Studie über die Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914 vor. Jahrelang hat sie sich forschend mit diesem Aspekt der Sexual- und Sittengeschichte des Kaiserreichs beschäftigt. Der ganze Aufbau der Studie — die Grundlegung der Fragestellung und der wichtigsten Thesen, die Beschreibung des Forschungsstandes und des Forschungsansatzes sowie der Quellenlage, Informationen über den Aufbau der Arbeit und die historischen Kontexte — macht deutlich, dass es sich hierbei um eine Forschungsarbeit mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch handelt.

Diese Studie gliedert sich in sechs Abschnitte, in denen Templin exemplarisch verschiedene medial erzeugte und diskutierte Skandale der Kaiserzeit untersucht. Aus der Vielzahl möglicher Skandale des Nackten und Sexuellen befasst sie sich mit (1) Satireblättern, (2) Aktfotografien, (3) Nackttänze, (4) Kabaretts, (5) Privatdrucke sowie um (6) das Verhältnis von Medien und Sexualität im Kaiserreich.

Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die Autorin sehr eingehend mit ihrem Stoff befasst hat; die Darstellung der einzelnen Medienformate und die historische Kontextualisierung machen deutlich, dass die Autorin über ein profundes und extensives Wissen über die historischen Verhältnisse verfügt, welches weit über den vorgelegten Text hinausgeht.

Der umfangreiche Anhang mit Quellen- und Literaturverzeichnis möge die arrivierte Leserin zu weiterer Lektüre und eigenen Nachforschungen anregen. Die durch die DFG und die Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) kofinanzierte Studie überzeugt durch ihre fachliche Kompetenz sowie durch ihren innovativen Ansatz einer medialen Untersuchung der Sitten-Skandale der Kaiserzeit.

Auch für den nicht wissenschaftlich motivierten Leser eine lohnende Lektüre, gewährt diese Studie einen tiefen Einblick in die Moralität der Kaiserzeit sowie in jene Prozesse, die ablaufen, wenn progressive und regressive Kräfte in einem restriktiven gesellschaftlichen Umfeld aufeinandertreffen.

 

 

Autor: Christina Templin
Titel: “Medialer Schmutz — Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914“
Taschenbuch: 378 Seiten
Verlag: Transcript
ISBN-10: 3837635430
ISBN-13: 978-3837635430

 

 

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