Ben Roeg: „Große Frauen – Portraits der kreativen Persönlichkeit“
Am: | August 25, 2015
Dies ist ein erzählendes Sachbuch. Das bedeutet: Die darin berichteten Ereignisse sind (größtenteils) historisch verbürgt, haben sich wirklich so ereignet. Zum Beispiel, dass Franz Kafka Else Lasker-Schüler als „Kuh vom Ku-Damm in Berlin“ tituliert hat. Dass Astrid Lindgren an ihrem 70. Geburtstag ein Interview gegeben hat, zu dem sie wie in der Kindheit auf einen Baum geklettert ist. Dass Niki de Saint Phalle in der Jugend von ihrem Vater missbraucht wurde und trotzdem diese lebenssprühenden Nana-Figuren geschaffen hat. Dass Rosa Luxemburg ihren berühmten Satz „Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden!“ gerade auch gegen die leninistisch-totalitäre Form der ‚Diktatur des Proletariats‘ nach der russischen Oktoberrevolution vorgebracht hat.
Aber das sind nur einzelne, bunte Mosaiksteine des biografischen Zugangs, die eine tiefere Bedeutung allein innerhalb des Gesamtbildes einer überzeugenden Botschaft gewinnen können. Und eine solche Botschaft bietet das Buch in Bezug auf drei Problemperspektiven: die psychologische Frage der kreativen Persönlichkeitsstruktur, die Gender-Frage der Kreativität von Frauen und die literaturwissenschaftliche Frage der optimalen Sachbuchgestaltung.
In Bezug auf die Persönlichkeitsstruktur von Kreativen wird z.B. anschaulich dargestellt, wie sehr die Exaltiertheit von Else Lasker-Schüler Franz Kafka auf den Nerv gegangen ist. So sehr, dass für ihn solch hysterischer Gefühlsüberschwang jegliche tiefere, existenzielle Beziehungssubstanz ausschloss. Und doch war E. Lasker-Schüler mit ihrem Dichterfreund G. Trakl so existenziell verbunden, dass sie nach seinem Suizid sogar die antisemitischen Beschimpfungen von Trakls Schwester überwinden und ihn – literarisch – weiter lieben konnte. Kafka ist hier also einem gesellschaftlichen Stereotyp aufgesessen, nämlich dass sich Gefühlsüberschwang und Beziehungstiefe ausschließen. Ein Stereotyp, das durch die gesellschaftliche Sozialisation allerdings dazu führt, dass diese Persönlichkeitseigenschaften normalerweise tatsächlich gegenläufig sind.
Kreative jedoch lösen sich aus diesen beschränkenden Gegenläufigkeiten, die lediglich durch die stereotype Sozialisation in unserer Gesellschaft zustande kommen. Darin besteht die Struktur der kreativen Persönlichkeit: dass ansonsten gegenläufige Persönlichkeitseigenschaften konstruktiv verbunden werden. Wie es im Vorwort des Literatur- und Kreativitätspsychologen N. Groeben theoretisch erklärt und in den zwanzig literarisch-biografischen Miniaturen im Folgenden lebendig veranschaulicht wird.
Rosa Luxemburg etwa hat mit der russischen Oktoberevolution die größten Hoffnungen auf die Verwirklichung ihrer (kommunistischen) Lebensziele verbunden, sie war also in höchstem Maße (positiv) parteilich. Und trotzdem hat sie nicht die übliche Schwäche von Politiker/innen gezeigt, nämlich mit unterschiedlichen Maßstäben zu messen: großzügig gegenüber den Vertretern der eigenen Position und unnachsichtig gegenüber dem politischen Gegner. Im Gegenteil, sie hat mit einer intellektuellen Unbestechlichkeit sondergleichen gerade die Fehlentwicklungen der russischen Revolution(äre) kritisiert – für mich schlicht ergreifend!
Ganz nebenbei: Intellektuelle Brillanz zieht sich für mich neben der dargestellten (paradoxalen) Verbindung von gegensätzlichen Persönlichkeitseigenschaften wie ein roter Faden durch die zwanzig biografischen Miniaturen. Auch das eine Antwortperspektive auf die Genderfrage nach der Kreativität von Frauen. Wohlgemerkt nicht nach einer ‚weiblichen Kreativität‘. Es wird hier nicht eine spezifisch weibliche Kreativität behauptet, sondern die Kreativität von Frauen wird als Beispiel – und Vorbild – für Kreativität allgemein, grundsätzlich, übergreifend dargestellt.
Das ist eine implizite, dafür aber umso stärkere Argumentation gegen das immer noch – unterschwellig – existierende Vorurteil einer geringeren Kreativität von Frauen. Explizit ist diese Argumentation auch in der Auswahl der kreativen Frauen aus verschiedenen Lebensbereichen zu erkennen: Es gibt zwar ein gewisses Übergewicht von Literatinnen (8), aber auch die übrigen Künste (5: von bildender Kunst über Design, Fotografie bis zum ‚Tanztheater‘) sind vertreten, ebenso wie die Politik (5) und die Wissenschaft (2: aus der Psychologie).
Was die Bandbreite betrifft, wäre die Demonstration von (Frauen-)Kreativität sicher noch eindrucksvoller gewesen, wenn auch Naturwissenschaftlerinnen (Marie Curie; Lise Meitner) und Musikerinnen (vor allem auch Komponistinnen, z.B. Clara Schumann, Alma Mahler-Werfel) einbezogen worden wären. Aber u. U. müsste man hier (autor- wie leserseitig) mit besonderen Verständnisschwierigkeiten rechnen? Zumindest im Vorwort hätte man dazu aber die eine oder andere Erläuterung geben können. Zumal ansonsten die Auswahl und vor allem Zuordnung der kreativen Frauen zu den behandelten Lebensbereichen („Von Innen; Nach Außen; Zum Du; Und zur Gesellschaft“) ausgesprochen ‚kongenial‘ ist.
So wird z.B. Androgynität als Verbindung von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht an der hier meistens stereotyp angeführten George Sand veranschaulicht, sondern an der amerikanischen SF-Autorin Alice B. Sheldon, die unter dem Namen James Tiptree, Jr. publiziert hat und sowohl wegen ihres Lebenslaufs als auch des literarisch ‚harten‘ Stils jahrzehntelang als typisch ‚männlicher‘ Autor galt. An George Sand und ihrem Lebenslauf wird dagegen aufgezeigt, dass ein Abweichen von den gesellschaftlichen Konventionen (z.B. der Sexualmoral) gerade nicht Haltlosigkeit bedeutet, sondern bei Kreativen eine intensivere ethische Reflexion und höhere Werthaltung einschließen kann (und wird: „Sinnlichkeit – Sittlichkeit“).
Der Band bietet daher sicher sowohl kreativitätspsychologisch als auch feministisch Interessierten neue Informationen und Einsichten. Vor allem aber tut er das auf eine Weise, die nicht nur kognitiv, sondern auch emotional involviert. Dies ein zentrales Charakteristikum des erzählenden Sachbuchs, in dem die Geschehnisse nicht lediglich informativ berichtet, sondern so erzählt werden, dass auf Seiten der Leser/innen ein Miterleben möglich wird. Dazu wird die Innensicht der beschriebenen Personen fiktiv nachgezeichnet, aber immer so, dass diese Fiktion eine psychologisch höchst plausible Schilderung der thematischen (und tatsächlich aufgetretenen) Lebensereignisse darstellt. Sogar bis hin zur Innensicht einer Suizidentscheidung und -durchführung – z.B. bei Tiptree/Sheldon mit dem abgewandelten Camus-Satz: „Müssen wir uns den von eigener Hand Sterbenden als glücklichen Menschen vorstellen?“
Auf diese Weise erscheinen die (im Wortsinn) un-gewöhnlichen Eigenschaftsverbindungen letztlich nicht mehr paradoxal, sondern als das einzig Sinnvolle und lösen eine Faszination für die kreative Persönlichkeit als Entwicklungsziel aus. Faszination und Anregung zu einem kreativen Lebensstil, der letztlich die zentrale Botschaft dieses überaus gelungenen Sachbuchs darstellt: für alle, die bereit sind, sich von den vorgestellten hochkreativen Frauen und ihren Lebensläufen mitreißen zu lassen!
Rezensentin: U. C.
Autor: Ben Roeg
Titel: „Große Frauen – Portraits der kreativen Persönlichkeit“
Taschenbuch: 212 Seiten
Verlag: custos verlag
ISBN-10: 3943195147
ISBN-13: 978-3943195149
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