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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Jakob Augstein (Hg.): „Reclaim Autonomy — Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung“

Am: | Juli 30, 2018

Vor einigen Tagen landete eine Mail im Briefkasten: „Hitler war ein Britischer Agent! Wie kann man von einem Mann ein Wohlwollen gegenüber dem Deutschen Staat erwarten, der im Dienst einer fremden Macht stand? England‼ Um die Sache mehr zu verdeutlichen, warum sagt uns Niemand, daß der Großkopf Adolf perfekt Englisch sprach und Französisch? Wo war Hitler in der Zeit zwischen 1911 und 1914? Er war in England und Irland. Eigenartig, da gibt es eine Lücke in dem Geschichtsbewußtsein gewisser Leute. Das Victorianische Zeitalter mit anderen Mitteln läßt grüßen.“ [Die schönen Schreibfehler wurden bewusst nicht korrigiert.]

Wir haben sehr gelacht. Wie muss es im Kopf von Leuten aussehen, die solche Mails schreiben oder (noch schlimmer) solche Mails lesen für wahr halten?! — Es lässt sich nicht leugnen, dass wir seit AfD und Pegida, seit Trump und Bannon, seit Breitbart und Compact, seit Orbán, Strache, Kurz und Salvini, seit Marine Le Pen und Geert Wilders und wie sie alle heißen — kurz: seit dem internationalen Siegeszug der Rechten und Populisten in den letzten Jahren einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Umgang mit den Medien beobachten müssen:

Früher wurden Medien akzeptiert oder kritisiert. Heute werden (soziale) Medien von Rechtspopulisten bewusst zu propagandistischen Zwecken gebraucht, um eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen und sie mit Gegeninformationen zu versorgen. Der hier verwendete (und etwas spröde klingende) Begriff der „Gegeninformationen“ scheint mir treffender als der landläufig gebrauchte Begriff der „alternativen Fakten“, denn was alternativ ist, klingt irgendwie attraktiv und könnte ja sogar wahr sein.

Mit Gegeninformationen versorgt man die eigenen Filterblasen; sie werden so lange in den Echoräumen widerhallen, bis alle glauben, dass sie wahr sind (und alle Informationen der öffentlich-rechtlichen Medien falsch). Neben diesem Missbrauch (oder Gebrauch?) der sozialen Medien zeichnen sich rechte Populisten durch einen Jargon aus, der provozieren will und sich bewusst diametral zur politischen Etikette verhält.

Die mittel- und langfristigen Ziele eines solchen Verhaltens sind: die totale Disruption der laufenden Prozesse, Torpedierung des Anstands und des guten Geschmacks, Guerilla-Taktik auf dem diplomatischen Parkett. Ein Trump ist auf internationalem Parkett mit seiner plump-aggressiven und irritierenden Strategie ziemlich erfolgreich, und wenn was nicht klappt, dann hat er das so nie gesagt oder es sind die bösen Medien mit ihren Fake News, die ihn nur wieder mal schlecht machen wollen, wie „noch nie ein amerikanischer Präsident …“ — man kennt dieses Gelaber.

Letzten Endes verfolgt diese radikal neue und destruktive rechte Medienpolitik das Ende des Diskurses und die Selbstauflösung der demokratischen Institutionen. All dies kann man in den vergangenen Jahren überall auf der Welt beobachten, aber man müsste auch etwas dagegen tun, oder?! — Die Politik hat leider ein Problem, denn die Neuen Rechten sind nur eine von vielen Interessengruppen, die mithilfe der digitalen Medien Front machen gegen die alte analoge Welt: Da sind auch die internationalen Datenkonzerne, die global agierenden Banken und der deregulierte Finanzsektor.

„Die Politik hat kapituliert. Längst hätte sie die Kontrolle über die digitalen Massenvernichtungswaffen beanspruchen müssen. Aber weder an die Banken noch an die Daten-Konzerne — noch übrigens an die Geheimdienste — hat sich die Politik herangewagt.“ Die Politik ist schlichtweg überfordert. Nicht ohne Grund spricht die Kanzlerin von „Neuland“, wenn es um das Internet geht.

Neuland — hey, das klingt nach Abenteuer und Aufbruch! Doch inzwischen sind die vier apokalyptischen Reiter der GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon) längst bei uns angekommen und bereiten uns mit smarten Telefonen und schicken Apps auf das bevorstehende Armageddon vor. Längst ist unsere persönliche (Daten-)Freiheit nicht mehr in Gefahr, sondern schon längst verloren.

Es geht also nicht mehr um Bewahrung und Sicherung von Persönlichkeitsrechten, sondern um die Rückeroberung der Autonomie der Nutzer. „re:claim Autonomy“ lautete somit auch der Titel einer Tagung der Berliner Rudolf-Augstein-Stiftung am 5. Dezember 2016, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Problematik befassen.

Nun ist aber ein „reclaim“ eine Reklamation und keine Reconquista, und somit geht es — genau genommen — nicht um eine Rückeroberung, sondern um eine Rückforderung in Sachen Autonomie. Diese könnte man auch wiedererlangen, indem man im Umgang mit dem Internet etwas an den Tag legt, was sehr altmodisch klingt: Contenance. Das meint zumindest der Psychiater und Publizist Jan Kalbitzer.

Er könnte recht haben mit seiner These, dass wir im Umgang mit Fake News falsch reagieren, indem wir möglichst emotionslos das rationale Denken in den Vordergrund schieben und die Falschmeldungen zu widerlegen versuchen. Seiner Meinung nach sollten wir genau das Gegenteil machen und lernen, auf unsere Gefühle zu hören! Anstatt immer nur sachlich abzuwägen und auf dieser Basis der Richtigkeit einer seltsam wirkenden Meldung näher zu kommen, sollten wir uns lieber öfter fragen, wie es uns mit dieser oder jener Meldung geht, ob sie sich gut und richtig anfühlt oder nicht. Nur so werden wir wieder eine „Antenne“ für die Richtigkeit oder Falschheit von Internet-Tweets und Postings bekommen. – Wir sollten also mit andren Worten „Contenance“ zeigen.

Contenance, das bedeutet Zurückhaltung, Vorsicht und Umsicht, ein bewusstes Zurückhalten vorschneller Bewertungen, aber auch eine vornehme und diskrete Haltung im Umgang mit fremden Meinungen. Auf diese Weise muss man das Internet nicht generell verurteilen, sondern kann dessen Vorzüge nutzen, sich jedoch auch von notorischen Lügnern, Hasspredigern und pöbelnden Zeitgenossen distanzieren.

Der handliche Tagungsband gliedert sich in drei große Abschnitte, die sich mit der „Demokratie im digitalen Zeitalter“, der „Macht digitaler Konzerne“ und mit der Frage „Wie Technologie unser Denken beeinflusst“ beschäftigen. Die Beiträger stammen aus unterschiedlichen Feldern der Politik, der Wirtschaft, der Rechtswissenschaft, Informatik, Publizistik und den Sozialwissenschaften. Durch diese breite Streuung ist eine facettenreiche Diskussion der aktuellen Themen gesichert.

Als unsichtbarer Schirmherr dieser Tagung fungiert der 2014 verstorbene Journalist und Publizist Frank Schirrmacher; die von der Rudolf-Augstein-Stiftung initiierte Tagung wurde 2016 zu seinem Gedenken veranstaltet. In der Tat war Schirrmacher einer, der sich schon früh mit dem Internet und den sozialen Medien kritisch auseinandergesetzt hatte. Es wäre spannend, was er über einen US-Präsidenten sagen würde, der seine Politik hauptsächlich über Twitter betreibt.

Reclaim Autonomy ist ein spannender und sehr inspirierender Sammelband zum Thema Internet und Macht. Heute mehr denn je ein Thema, das uns alle angeht, egal ob wir das Internet selbst nutzen oder nicht: Digitale Konzerne beeinflussen unser Leben und unseren Alltag, sie beeinflussen die Wirtschaft und die Politik.

Höchste Zeit also, dass wir in den westlichen Gesellschaften ein Gefühl dafür entwickeln, dass es um nichts Geringeres geht als um den Kampf für den Erhalt unserer Autonomie und um die Verteidigung unserer Demokratien! Beide sollen uns genommen werden, denn sowohl Demokratien als auch autonome Bürger sind lästig. Sie stehen den neoliberalen Kräften und den Freunden der Globalisierung — und nichts Anderes sind die international agierenden digitalen Konzerne — nur im Weg. In einem anderen politischen System könnten sie ihre Geschäfte noch viel besser machen …

Durch die von den digitalen Medien betriebene Überbetonung der Individualität sind wir schon fast zu einer Gesellschaft von „Ego-Shootern“ geworden. Solidarität und Gemeinschaftsgefühl sind nahezu verschwunden; an ihre Stelle sind virtuelle Freundesgruppen und spontane Votings getreten. Schon viele leben nur noch in Echokammern und Filterblasen; sie sind für einen kritischen Umgang mit Informationen fast verloren. Es wird Zeit, dass vor allem die politisch Verantwortlichen nicht länger mit den digitalen Wölfen heulen, sondern „Contenance“ bewahren im Umgang mit den sozialen Medien. Sonst bekommen wir bald richtige Probleme, von den jene so oft bejammerte Politikverdrossenheit wohl noch das kleinste ist.

 

 

Autor: Jakob Augstein (Hg.)
Titel: „Reclaim Autonomy — Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung“
Taschenbuch: 189 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518127144
ISBN-13: 978-3518127148

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