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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Max Winter: „Expeditionen ins dunkelste Wien — Meisterwerke der Sozialreportage“

Am: | April 30, 2018

Im Picus-Verlag ist nun in dritter Auflage die schöne Auswahl der Sozialreportagen Max Winters aus dem Wien um 1900 erschienen. Wie im Picus-Verlag üblich, handelt es sich um eine solide gebundene Hardcover-Ausgabe mit ansprechendem Satzspiegel und Lesebändchen. Doch wer war eigentlich dieser Max Winter, den man zwar in Österreich, jedoch in Deutschland kaum noch kennt?

Der 1870 im ungarischen Tárnok geborene Max Winter übersiedelte bereits 1873 mit seiner Familie nach Wien. Er verließ bereits nach der vierten Klasse vom Gymnasium, um eine Kaufmannslehre zu absolvieren. Danach begann er zu studieren: Philosophie, Geschichte und Nationalökonomie, jedoch alles ohne Abschluss.

Max Winter zog es zum Journalismus. Er arbeitete für das Neue Wiener Journal und später für die Arbeiter-Zeitung, das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, und wurde vorübergehend sogar Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung am Abend. 1923 gründete er im Vorfeld der Nationalratswahlen eine neue Frauenzeitschrift: Die Unzufriedene. Sie wurde sehr erfolgreich und setzte sich für die Frauenrechte ein. Im Programm der Zeitschrift heißt es: „Die Unzufriedene will (…) Sprachrohr und Führerin sein im Kampfe wider alles Unrecht, wider allen Unverstand, wider alle Rückständigkeit. In der Unzufriedenheit liegt der Fortschritt der Menschheit. Wenn die Frauen vorwärtskommen wollen, müssen auch sie unzufrieden sein.“

Im Umfeld dieser Zeitschrift erschienen auch die Groschen-Büchel: erschwingliche Heftchen mit Texten von zeitgenössischen Autoren. Die preiswerten „Büchel“ sollten den Arbeitern ermöglichen sich weiterzubilden und ihnen den Zugang zu literarischen Werken erleichtern.

Dieselbe Intention verfolgte Max Winter mit dem Aufbau von Kinderbibliotheken in ganz Österreich; er engagierte sich auch erfolgreich in der Politik und blieb bis 1930 Abgeordneter im Reichsrat.

Bereits 1934 verließ Winter nach dem Verbot der Sozialdemokratie seine Heimat und ging in die USA. Noch im gleichen Jahr wurde er wegen „österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland“ ausgebürgert, weil er bei einem Vortrag in der New Yorker Carnegie Hall den diktatorisch regierenden österreichischen Bundeskanzler Dollfuß einen „Arbeitermörder“. In den USA versuchte Max Winter vergeblich beim Film Fuß zu fassen und starb 1937 vereinsamt und verarmt in einem Krankenhaus in Hollywood.

Max Winters sozialreformerisches Programm fand seinen Niederschlag auch in literarischen Texten, aber vor allem in seinen Sozialreportagen. Die wissenschaftliche Rezeption seiner Werke ließ lange auf sich warten; erst in den 1980er Jahren begann man, die große Bedeutung der sozialkritischen Reportagen Max Winters zu erfassen und die Texte für die Forschung zu erschließen.

Seine Sozialreportagen schrieb Max Winter für die Arbeiter-Zeitung und später auch für Die Unzufriedene, aber er hat auch mehrere Sammlungen von Reportagen in Buchform veröffentlicht. Zwei Bände („Das goldene Wiener Herz“ (Band 11, 1904) und „Das unterirdische Wien“ (Band 13, 1905)) erschienen auch in Hans Ostwalds soziologischem Großprojekt der Großstadt-Dokumente.

Das Elend der Arbeits- und Obdachlosen Wiens wollte er beschreiben. Missstände aufzeigen, ganz unsentimental auf die prekären Verhältnisse hinweisen, sozialem Elend eine Öffentlichkeit geben. Bemerkenswert ist an Max Winters Reportagen, dass er nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, seine Anklage hinter literarisierenden Formen versteckte und auf diese Weise die Beschreibung des Elends auf eine künstlerische Ebene hob; vielmehr praktizierte Winter schon eine Reportage-Form, die man als teilnehmende Beobachtung (avant la lettre!) bezeichnen mag.

Was Robert Park und die Chicago School als Wegbereiter einer frühen Stadtsoziologie in den amerikanischen Großstädten praktizierten, hatte sich Max Winter für das Wien des frühen 20. Jahrhunderts vorgenommen: die Sozialreportage von innen heraus, nicht als distanzierter Journalist, sondern als teilnehmender Beobachter.

Wenn es um eine teilnehmende Beobachtung geht, so kann man auch eine direkte Verbindung ziehen von Max Winter zu Jacob Riis, der bereits 1890 systematisch über die sozialen Verhältnisse in der New Yorker Lower East Side Bericht erstattete (How the other half lives, 1890) und seine Sozialreportagen mit Fotos aus den Elendsquartieren untermauerte. Auch Riis ging es um das Öffentlich-Machen und die Behebung des sozialen Elends; allerdings setzten seine Reformbestrebungen im Vergleich zu Winter eher bei architektonischen und stadtplanerischen Verbesserungen an, während es Winter um sozialreformerische Schritte in den Bereichen Bildung und Rechte ging.

Egon Erwin Kisch wird weithin als der „Erfinder“ der sozialen Reportage gefeiert — zu Unrecht, denn Max Winter war früher als Kisch für seine Reportagen in die dunklen Abgründe der Wiener Elendsquartiere gestiegen und hatte aus ihnen berichtet. Winter wurde das, was man in den USA als Muckraker bezeichnete: ein Schmutzaufwühler und Nestbeschmutzer; jemand, der die zuckersüße heile Welt der k. u. k. Monarchie mit seinen verstörenden Reportagen vom Bodensatz der Gesellschaft ankratzte und den Lesern zeigte, dass jede Menge Dreck unter dem Teppich lag.

Max Winter nannte seine Reportagen „Studien“. Das sind sie zweifellos, doch während der Lektüre wird schnell klar, dass es sich um mehr als soziologische Studien handelt: Winters Texte verbinden einen lebendigen literarischen Stil mit den atmosphärischen Beschreibungen eines Beteiligten. In einer neuen und komplexen Form gelingt es Max Winter, in seinen Reportagen mehrere literarische Formate miteinander zu verbinden: „die frühe Reisebeschreibung mit ihren engen Bezügen zur Ethnologie, zum Korrespondentenbericht und Feuilleton, die sozialstatistische Erhebung und die verschiedenen, als Reaktion auf Pauperismus und soziale Frage erstellten, staatlichen und gewerkschaftlichen Sozialberichte“.

Dieser Verweis auf die Ethnologie ist durchaus berechtigt: Viele seiner Zeitgenossen mögen Winters Reportagen wie Reiseberichte aus einem fernen und unbekannten Land gelesen haben, selbst wenn die Arbeiter-Zeitung das Zentralorgan der Sozialdemokratie war und man bei deren Leserschaft eine gewisse Sensibilität in sozialen Fragen voraussetzen darf. Gleichwohl waren die Armenviertel, Elendsquartiere und Obdachlosenasyle Orte, die man nicht aufsuchte, sondern eher aus der subjektiven Wahrnehmung ausblendete, so gut es eben ging. — Doch genau darum ging es Max Winter: das soziale Elend aufzuzeigen und die Leute zum Hinsehen zu animieren. Nur so konnten sozialreformerische Aktivitäten auf eine breite Basis gestellt werden.

Das vorliegende Buch versammelt sechzehn Reportagen Max Winters — von über 1.500 Reportagen, die er in jenen Jahren veröffentlichte. Eine solche Auswahl kann niemals repräsentativ sein, darauf weist auch der Herausgeber in seiner editorischen Notiz hin. Gleichwohl bietet der vorliegende Sammelband einen guten ersten Zugang zu Max Winters journalistischem Werk. Seine Sozialreportagen verbinden „literarische, sozialwissenschaftliche und journalistische Formen der Analyse und Beschreibung“ komplexer sozialer Wirklichkeiten.

Doch sind jene Texte, die vor über hundert Jahren entstanden sind, überhaupt noch für unsere Zeit relevant? Davon ist der Herausgeber, Hannes Haas, überzeugt: „Sie präsentieren sich als wunderbare Beispiele, nein: als Vorbilder für Engagement und Qualität, für Präzision und Professionalität, für Meisterschaft in der Form — welch kümmerliche Elaborate werden heute bisweilen als Reportagen ausgegeben? — und für Genialität der Recherche, für tiefen Ernst und feinen Humor in einer erstaunlich zeitlosen Sprache.“

Dieser Einschätzung kann und muss man sich anschließen, wenn man diese Texte aus dem unterirdischen Wien liest, die Max Winter zu Beginn des letzten Jahrhunderts verfasst hat. Gleichzeitig sind diese Sozialreportagen ein unmissverständliches Plädoyer für einen Qualitätsjournalismus, der sich in Zeiten von Fake News und Social Media mit neuen Bedrohungen der journalistischen Standards auseinandersetzen muss.

Für Wiener und andere Österreicher sind die Reportagen aus dem alten Wien natürlich schon allein aufgrund der Topographie eine faszinierende Lektüre. Doch selbst für einen ortsfremden oder gar ortsunkundigen Leser werden diese Berichte aus dem Untergrund zu äußerst lebendigen sowie auf eine seltsame und verstörende Art und Weise auch unterhaltsamen Geschichten aus einer untergegangenen Welt.

Aber ist diese Welt des sozialen Elends wirklich untergegangen? Oder hat sich die Szenerie vielleicht nur verlagert in andere Winkel der Erde oder hat sich auf andere Bevölkerungsschichten (mit Migrationshintergrund) übertragen? — Die Antwort muss offenbleiben, doch das Gespür und die Antenne für soziales Unrecht lassen sich am feinsten justieren durch solche Geschichten, wie wir sie hier lesen können. Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese Texte vor hundert Jahren oder vor einer Woche geschrieben wurden.

Max Winters Sozialreportagen haben seinerzeit erstmals im deutschsprachigen Raum gezeigt, wie groß der Unterschied zwischen Arm und Reich wirklich war in jener „Kaiserzeit des Kapitalismus“ vor dem Ersten Weltkrieg. Auch heute wird die Schere zwischen Arm und Reich durch die ungebremste Entwicklung des Turbokapitalismus immer größer. Darüber zu berichten und eine breite Öffentlichkeit für sozialreformerische Ideen zu sensibilisieren, ist auch heute die vornehmste Aufgabe eines engagierten und qualitativ hochwertigen Journalismus.

 

Autor: Max Winter
Titel: „Expeditionen ins dunkelste Wien — Meisterwerke der Sozialreportage“
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Picus Verlag
ISBN-10: 3854524935
ISBN-13: 978-3854524939

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