Volker Lilienthal, Irene Neverla (Hg.): „Lügenpresse — Anatomie eines politischen Kampfbegriffs“
Am: | August 28, 2017
Macht man es sich zu einfach, wenn man die Sprechchöre des entrechteten rechten Pöbels, jenes „Lü-gen-pres-se! Lü-gen-pres-se!“, als das abtut, was es zu sein scheint: geschmacklose Pöbeleien?
Der kollektiv und stereotyp gegrölte Vorwurf, Lügen zu verbreiten, hat Tradition, allerdings keine schöne. Jahrzehntelang traute man sich nicht, zurecht. Doch plötzlich hatte sich einer getraut, dann ein paar Wenige, und nun schreien jeden Montag tausende Dresdner Tiefflieger ihren Hass auf die da oben heraus, vergreifen sich komplett im Ton, verlieren jedes Maß und schreien „Lügenpresse“, „Volksverräter“ und „Merkel muss weg“.
Diesen armen Menschen kann man nicht helfen, indem man sie beschimpft, dies setzte nur eine Endlosschleife von gegenseitigen Anschuldigungen in Gang. Nein, man kann diesen Menschen vom Rande der Gesellschaft nur durch Bildung auf die Sprünge helfen. Allerdings muss diese Bildung auch von den Richtigen in die Hand genommen werden. Zurzeit bilden sich diese Leute nur etwas ein, anstatt sich zu bilden. Die rechten Rattenfänger sind dabei, einen Teil der Bevölkerung nach ihrem Weltbild zu erziehen, sie mit ihren eigenen alternativen Fakten zu füttern, bis sie dieselben blöden Lügen wiederkäuen, die man ihnen eingetrichtert hat.
Wer die öffentlich-rechtlichen Medien und die seriöse Presse als „Lügenpresse“ beschimpft, sieht sich in ihnen nicht mehr repräsentiert. Die Stimme des kleinen Mannes ist schon lange aus den großen Medien verschwunden und hat sich in die rechts- und sinnfreien Reservate der (sogenannten) sozialen Medien zurückgezogen. Hier findet jeder Idiot seine Echokammer, in der er nur noch das zu hören, zu lesen und zu sehen bekommt, was seine, wie schief auch immer geartete, Meinung bestätigt. Hier wird Tacheles gesprochen! Hier wird die Wahrheit gesagt! Alles Andere ist „Lügenpresse“. So einfach ist das!
Die Herausgeber dieses aktuellen Sammelbandes haben sich die Aufgabe gestellt, diesen politischen Kampfbegriff einmal möglichst neutral nach seinen Ursprüngen zu befragen, und sie haben führende Journalisten eingeladen, zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, die etablierten Medien würden Lügen verbreiten, anstatt ihrem eigentlichen Auftrag nachzukommen und die Öffentlichkeit möglichst neutral mit Nachrichten zu versorgen.
Nun könnte man an dieser Stelle natürlich einen theoretischen Exkurs einfügen über die Frage nach der Objektivität von Nachrichten und die Aufgabe des Journalismus überhaupt. Aber das lassen wir lieber, denn die Totengräber der objektiven Berichterstattung haben längst den Spaten an die Wurzeln der klassischen Massenmedien gelegt. Die Freiheit und Unkontrollierbarkeit des Internets ist gleichzeitig seine Stärke und sein Fluch, in diesem Fall eben sein Fluch.
Im Internet kann jeder behaupten, was er will. Der Qualitätsjournalismus funktioniert leider so, dass er auf jede Anschuldigung reagieren muss, denn das ist nach seinem Selbstverständnis ein entscheidender Teil seines Informationsauftrags: auch auf die seltsamsten Vorwürfe zu reagieren und sie zu entkräften, Falschmeldungen zu korrigieren und kühne Behauptungen nicht einfach nachzuplappern, sondern zunächst zu recherchieren. — Die „andere Seite“, die Rechtspopulisten und ihre Medienmacher bedienen sich hingegen des Prinzips der Disruption. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Wortschatz der Ökonomie. „Eine disruptive Technologie (engl. disrupt – unterbrechen, zerreißen) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung vollständig verdrängt“, so Wikipedia.
Was in diesem Fall „vollständig verdrängt“ werden soll, ist die Deutungshoheit der klassischen Massenmedien. Die Rechte wollen auch mal endlich sagen dürfen, was wahr ist. Oder besser: wollen sagen, was sie selbst für wahr halten (wollen). Man unterbricht den Nachrichtenfluss der etablierten Medien, indem man permanent die Farbbomben der eigenen Lügen in diesen Fluss schmeißt, und irgendwann kommt die alte Maschinerie des Qualitätsjournalismus nicht mehr mit dem Dementieren, Recherchieren und Richtigstellen von Falschbehauptungen und Unterstellungen nach.
Das ist dann der Zeitpunkt, an dem die rechten Fake News-Channels ihren großen Auftritt haben könnten: wenn die klassischen Medien durch das disruptive Lügen-Feuerwerk immer mehr beansprucht werden, anstatt sich um ihren eigentlichen Auftrag der objektiven Berichterstattung zu kümmern. In solch einem seriösen Umgang mit Fake News liegt eine der Gefahren für den Qualitätsjournalismus. Lügner straft man am besten durch Nichtbeachtung; wer Fake News veröffentlicht, analysiert und dementiert, macht sich automatisch zum Gehilfen der Lügner.
Das journalistische Establishment schlägt nun zurück und zeigt den Lügenpresse-Schreiern, wer hier wirklich der Lügner ist Giovanni di Lorenzo, Jakob Augstein und Klaus Brinkbäumer gehören zweifellos zum journalistischen Establishment, und das ist sehr gut so. Denn gehörten andere Leute dazu, wäre es um unseren Qualitätsjournalismus noch schlechter bestellt, als ohnehin schon.
Doch es gibt keinen Grund zur Hochnäsigkeit. Journalisten machen Fehler. — Wir sprechen hier weiterhin von Qualitätsjournalisten, die eine objektive Berichterstattung für unverzichtbar halten. — Auch Journalisten machen Fehler, recherchieren zu wenig, geraten unter Zeit- und Veröffentlichungsdruck. Schnell ist es passiert: raus ist raus, eine veröffentlichte Nachricht lässt sich nicht mehr zurückholen, sie ist in der Welt, wird rezipiert und kopiert.
„Dieses Buch erklärt die Hintergründe der Verunsicherung, die Leser und Zuschauer ebenso erfasst hat wie die Macher in den Medien. Und es zeigt, wie das Vertrauen zurückgewonnen werden kann.“ So steht es auf dem Klappentext. Das Buch beleuchtet das Phänomen der öffentlichen Beschimpfung, den Umgang der Medien mit dem Vorwurf der Lügenproduktion, den Umgang mit den rechtspopulistischen Produzenten von alternativen Fakten, die keine Fakten sind, sondern Lügen.
Dieses Buch benennt Ross und Reiter. Es bietet einen Querschnitt durch die aktuelle Lage der Medien in unserem Land. Kurz vor der Bundestagswahl, die sich als eine Richtungswahl entpuppen könnte, deren Richtung die stille Mehrheit nicht für möglich und auch nicht für wünschenswert hält, ist dieses Thema in seiner Aktualität kaum zu überbieten.
Es ist ein wichtiges Buch über ein hochemotionales Thema, ein Buch, das gelesen und dessen Erkenntnisse in die öffentliche Diskussion einfließen sollte über die Frage, in welchem Land wir zukünftig leben wollen.
Autor: Volker Lilienthal, Irene Neverla (Hg.)
Titel: „Lügenpresse — Anatomie eines politischen Kampfbegriffs“
Taschenbuch: 320 Seiten
Verlag: KiWi-Taschenbuch
ISBN-10: 3462051121
ISBN-13: 978-3462051124
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