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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Gert Scobel: „Der fliegende Teppich — Eine Diagnose der Moderne“

Am: | August 2, 2017

Es macht keinen Sinn, weiter um den heißen Brei herumzuschleichen: Wir bewegen uns auf unsicherem Terrain. Wir haben den festen Boden unter unseren Füßen längst gegen einen fliegenden Teppich eingetauscht, meint Gert Scobel in seinem vorliegenden Buch mit dem gleichlautenden Titel.

Teppich wäre ja noch okay, aber muss es denn gleich ein fliegender Teppich sein?! Das klingt gefährlich und unsicher. Doch so denken nur Angsthasen, denn ein fliegender Teppich bietet auch jede Menge Chancen. Zuallererst kann er uns in Windeseile von A nach B bringen, ohne dass wir uns über verstopfte Autobahnen und ausfallende Zugverbindungen Gedanken machen müssten. Auch der ökologische Fußabdruck ist bei der Reise mit einem fliegenden Teppich aller Wahrscheinlichkeit nach zu vernachlässigen.

Doch wohin soll eigentlich die Reise gehen? Und wer hat überhaupt gesagt, dass wir uns bewegen wollen?! Bewegung heißt doch Veränderung, doch das ist doch genau das, was die meisten Menschen gar nicht wollen, zumindest nicht, wenn sie wie wir in der beste aller Welten und darin an den Fleischtöpfen des Wohlstands leben. Veränderung kann nur Verschlechterung bedeuten, oder ist das vielleicht auch nur wieder eine falsche Sicht auf die Dinge?

Gert Scobel ist seit langem bekannt als eine der Speerspitzen einer kulturkritischen Diagnose unserer Zeit. Seine Sendung Scobel auf 3Sat gehört zu den wenigen Lichtblicken einer mehrheitlich von mentaler Umnachtung befallenen deutschen Fernsehlandschaft, deren Schwachmatentum als Beleg und Reflex eines allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs begriffen werden kann. Bei Scobel werden jedoch gesellschaftlich relevante Themen in einer Art und Weise behandelt, die genügend Raum für eine offene und oft kontroverse Diskussion bietet; wenigstens an dieser Stelle wird also noch der Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender erfüllt.

Doch zurück zum Buch. Um was geht es eigentlich? — Der Untertitel gibt einen ersten Hinweis auf die Intention des Autors: Es soll der Versuch einer Diagnose der Moderne geliefert werden. Was versteht Scobel unter Moderne? Diese berechtigte Frage wird ab Seite 120 beantwortet. Diese späte Klärung ist jedoch kein Nachteil, sondern eröffnet dem Autor vielmehr einen erweiterten Handlungsspielraum. Denn jede definitorische Festlegung hätte automatisch auch eine Beschränkung des behandelten Gegenstands zur Folge, was nicht unbedingt von Vorteil sein muss, wenn man einen Essay schreibt, und als solchen kann man das vorliegende Buch guten Gewissens bezeichnen.

Um im Bild zu bleiben, schwebt der Autor als in einem weiten Bogen auf seinem fliegenden Teppich auf die Bühne und erklärt dann ab der 120. Seite, worum es ihm eigentlich geht: Der Autor versteht Moderne als „eine epochale Struktur gesteigerter Geschwindigkeit, gesteigerter Komplexität, gesteigerter Vielfalt und Widersprüchlichkeit. […] Was die Moderne ausmacht, ist eine hochkomplexe, verwickelte Struktur, die sich aus einer Vielzahl einzelner Elemente zusammensetzt. Darin ähnelt die Moderne einem Teppich — einem Gewebe aus unterschiedlichen Textilien und Farben, das an unterschiedlichen Stellen des Teppichs unterschiedliche Muster hervorbringt. Eines der dominanteren Muster ist die sich immer weiter ausdifferenzierende Technisierung und die Dominanz der Wissenschaften im Alltagsleben.“

Wie wir mit einer solchen Moderne umgehen, hängt nicht zuletzt von unserer Einstellung gegenüber ihren Phänomenen ab. Doch genau das Gegenüber, die Einnahme einer distanzierten Position, ist hier das Problem. Denn wir leben in und mit diesen modernen Verhältnissen. Finanzkrise, Wissenschaftsgläubigkeit, Digitalisierung und Arbeit 4.0, Migrationsbewegungen und zunehmende soziale Ungleichheit sind nur einige der Schlagwörter, die uns seit vielen Jahren um die Ohren fliegen und die Sinne betäuben.

Es ist schwer, eine Diagnose der Gegenwart zu liefern, die mehr ist als ein subjektiver Bericht der Lage. Anders als der Historiker, der sich gemütlich in staubigen Archiven verkriechen und aus der historischen Entfernung einen Gegenstand der Vergangenheit mittels eines entsprechend breit aufgestellten Zugriffs auf unterschiedlichste Quellen einigermaßen objektiv beschreiben kann, ist der Diagnostiker der Gegenwart geradezu hilflos und untrennbar mit dem Gegenstand seiner Beobachtungen verbunden. Wie kann und wie sollte er in der Lage sein, ein objektives Bild der Jetzt-Zeit zu zeichnen?

Gert Scobel ist nicht nur Philosoph und Wissenschaftler, er ist auch ein brillanter Essayist. Und als solcher ist er natürlich durchaus in der Lage, eine Diagnose der Moderne zu liefern. Gerade der Essay ist dazu bestens geeignet, sich einem Forschungsgegenstand quasi spielerisch zu nähern, ohne das strenge Korsett der wissenschaftlichen Abhandlung, frei im Umgang mit den Fakten und dennoch in der Lage, eine stringente Argumentation zu entwickeln, wenn es sich ergeben sollte.

Genau so sollte man dieses wunderbare und inspirierende Buch lesen, und genau dies mag auch sein eigentliches Anliegen sein: den Leser zu inspirieren, ihn zu begeistern für eine leidenschaftliche Diskussion der modernen Gegenwart und einer aus ihr zu entwickelnden Zukunftsperspektive. Diese Diskussion kann, soll und muss ergebnisoffen geführt werden. Nur so werden wir einen Weg in die Moderne finden, der auf Veränderung setzt und jeden Schritt in eine neue und unbekannte Richtung als Chance und nicht als Risiko betrachtet.

Lesen Sie also diesen faszinierenden Essay, fliegen sie über die 356 Seiten eines klugen und wichtigen Beitrags zur aktuellen kulturellen Diskussion! Haben Sie Mut und steigen Sie auf den fliegenden Teppich! Die Reise ins Unbekannte, in eine neue Moderne kann beginnen!

 

 

Autor: Gert Scobel
Titel: „Der fliegende Teppich — Eine Diagnose der Moderne“
Broschiert: 368 Seiten
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596036895
ISBN-13: 978-3596036899

 

 

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