Heinrich Zille: „Das Alte Berlin – Photographien von Heinrich Zille 1890-1910“
Am: | Januar 5, 2016
Jeder kennt Heinrich Zille, den „Pinsel Heinrich“, wie ihn Tucholsky liebevoll taufte. Seine Zeichnungen sind weltberühmt, ihr Witz spiegelt den Humor der armen Leute, der Bettler, Huren, Hausierer, Kinder und Mütter aus den Arbeitervierteln der Berliner Großstadt um die Jahrhundertwende. Sein Blick für die kleinen Geschichten am Rande und für das Typische jener Zeit um 1900 machten Zille und seine „Zille-Figuren“ unsterblich.
Zilles Berlin ist das alte Berlin vor den Weltkriegen, und bei aller Sozialromantik, die man bei der Betrachtung jener Bilder empfinden könnte, bleiben sie doch ein realistisches Abbild jener prekären Verhältnisse und ein Zeitdokument für die Nachwelt.
Was bislang über Zilles Zeichnungen, seine Charaktere und schrägen Figuren gesagt wurde, bewahrheitet sich umso mehr bei der Betrachtung seiner Photographien. Zille war begeistert von dem neuen Medium der Photographie, und er machte ausgiebigen Gebrauch von den Möglichkeiten jener neuen Technik. Interessanterweise wurde seinen Photographien bislang nicht die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie seinen Zeichnungen. Zu Unrecht, wie der neue, schöne und reich bebilderte Katalog von Schirmer / Mosel beweist.
Von 1877 bis 1907 arbeitete Zille nach seiner Ausbildung 30 Jahre lang als Lithograph, Reproduktionstechniker und Retuscheur bei der „Photographischen Gesellschaft Berlin“. Hier beginnt er auch 1882, mit photographischen Kameras zu experimentieren. Anders als der Flaneur verzichtet Zille bewusst auf jene Distanz zu seinen Fotomotiven.
Das Buch basiert auf den von Thomas Struth Mitte der 1980er Jahre angefertigten Reproduktionen von Zilles Fotos. Seinerzeit waren diese Reproduktionen eine konservatorische Vorsichtmaßnahme, weil die Zukunft der Glasnegative ungewiss war; mittlerweile werden die Negative in den Beständen der Berlinischen Galerie verwahrt.
Zille führt den Betrachter durch die Straßen jener schnell wachsenden Metropole – auf Märkte, Rummelplätze, aber auch zu den Reisig sammelnden Frauen an der Peripherie. Das bunte Treiben des Großstadtlebens fängt Zille mit seiner Handkamera ein, fotografiert Arbeiter, die schnell an Bretterzäunen entlang zur Arbeit eilen.
Diese Bretterzäune sind im steinernen Berlin, das „ewig wird und niemals ist“, wie Karl Scheffler in seinem 1910 erschienenen Buch „Berlin – ein Stadtschicksal“ schreibt, allgegenwärtig, sie sind zum Symbol jener Zeit der radikalen Veränderungen und des nahezu ungebremsten Wachstums geworden.
Zille Fotos sind nicht nur bemerkenswerte Kunstwerke der historischen Fotografie, sondern haben darüber hinaus auch einen großen sozialdokumentarischen Wert. Man kann Zille ohne Zweifel zu den Pionieren einer sozialdokumentarischen Photographie und zu einem der ersten „Street Photographer“ zählen. Was er ablichtete, hat nicht nur dokumentarischen Wert, sondern gewährt faszinierende Einblicke in die Arbeit eines Künstlers, der sich kreativ mit einem neuen künstlerischen Verfahren beschäftigt.
So sind das Spiel mit dem Bildausschnitt, das Einfangen von Bewegungsabläufen, die schnappschussartige Aufnahmetechnik, die wie rein zufällig das Geschehen aufnimmt, in den Photographien von Heinrich Zille bemerkenswert. Hier zeigt sich, wie frei er mit dem neuen Medium umging, die Technik ausprobierte und an ihre Grenzen führte.
In diesem schönen Bildband mit seinen großformatigen Reproduktionen in hervorragender Qualität werden die Photographien von einleitenden und kompetenten Essays begleitet, die in die Thematik einführen, ohne hierbei den interessierten Laien zu überfordern. Wolfgang Kemp, Jeff Wall und Roy Arden erzählen viel Wissenswertes über die Photographien, ihre Zusammenstellung und die urheberrechtliche Lage der heutigen Rechteverwerter. Doch die Fotos sprechen vor allem für sich selbst. Man kann diesen Bildband also auch ohne ein näheres Studium der Texte einfach zur Hand nehmen und sich an den Bildern erfreuen.
„Das alte Berlin – Photographien von Heinrich Zille 1890 – 1910“ lädt ein zu einer Zeitreise in eine Welt, die bereits wenige Jahre später durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs für immer verschwunden war. Manches konnte fortbestehen, vor allem die Armut hörte ja nicht auf, sondern wurde sogar in der Inflationszeit der Weimarer Republik noch größer. Aber das wirklich alte Berlin musste dann endgültig Platz machen für das neue, aufstrebende Berlin der Zwanziger Jahre mit seinem Verkehr, seinem Tempo und seiner Modernität.
Zilles Fotos sind ein beispielloses Dokument jener alten Zeit, die für immer vergangen ist, und sein Blick auf die Menschen, auf den typischen Berliner seiner Zeit, ist untrennbar mit dem Bild verbunden, das wir uns, verklärend oder ernüchtert, von dieser alten Zeit machen.
Autor: Heinrich Zille
Titel: Das Alte Berlin – Photographien von Heinrich Zille 1890-1910
Taschenbuch: 160 Seiten
Verlag: Schirmer Mosel
ISBN-10: 3829606907
ISBN-13: 978-3829606905
Tags: altes berlin > armut > berlin > foto > großstadt > heinrich zille > hinterhof > kunst > photographie > proletariat > Rezension Heinrich Zille Das Alte Berlin > Rezension Heinrich Zille Das Alte Berlin Photographien von Heinrich Zille 1890-1910 > Rezension Heinrich Zille Photographien > Rezension Heinrich Zille Photographien von Heinrich Zille 1890-1910 > sozial > zille photographien