Interview mit Tillmann Bendikowski auf der Leipziger Buchmesse 2014 über sein Buch „Sommer 1914“
Am: | April 11, 2014
RALPH KRÜGER: Herr Bendikowski, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie die Stimmung im Sommer 1914 aus fünf verschiedenene Perspektiven, indem Sie auf Tagebucheinträge von fünf Personen aus unterschiedlichen sozialen und lokalen Kontexten zurückgreifen. Die Hauptthese, die Sie in Ihrem Buch vertreten, ist, dass die Legende von einer nationalen „Jubelstimmung“ historisch betrachtet nicht stimmt und dass es im Sommer 1914 in Deutschland keinen flächendeckenden Hurra-Patriotismus und eine allgemeine Kriegslust nicht gegeben hat.
TILMANN BENDIKOWSKI: Es war das Anliegen meines Buches, diesen Mythos von einer allgemeinen Kriegsbegeisterung, diesen so oft beschworene „Geist von 1914“ zu fassen, von dem wir in der Wissenschaft inzwischen wissen, dass es gar nicht so einheitlich war und dass wir das sozial, regional, nach Alter und nach Geschlechtern, nach Professionen und auch nach Zeitpunkten ausdifferenzieren müssen. Es geht ja um die Frage: Wie ziehen die Deutschen in den Krieg? Und das ist auch eine aktuelle Frage, weil auch heute deutsche Soldaten in Kriege ziehen. Wir müssen wissen, was damals wirklich geschah und wie haben die Menschen reagiert. Und bei der Suche nach Antworten auf diese Frage sind Tagebücher natürlich eine ideale Quelle gewesen, um einmal genauer nachzuschauen, wie das damals wirklich erlebt wurde und wie schnell sich auch die Einschätzug des Ganzen und die eigene Haltung dazu veränderte. Hierbei zeigte sich sehr schnell, dass es einen großen Unterschied machte, wo man diesen Sommer 1914 erlebte, ob in der Stadt oder auf dem Land, ob als akademische Jugend oder als nichtakademisches Alter, ob als Frau oder als Mann, ob als Arbeiter oder als Professor. – Es gab viele unterschiedliche Wege in diesen Krieg. Und es gibt nicht nur Kriegszustimmung und Kriegsablehnung, sondern es gibt dazwischen alle denkbaren Schattierungen, die einander überlagern können, die sich widersprechen können, die sich abwechseln können und zwar in einem atemberaubenden Tempo, zwischen Panik und Zustimmung, zwischen Gewaltausübung auch im zivilen Leben gegen vermutliche Feinde, Saboteure oder „Gold-Autos“ bis hin zu Ratlosigkeit und Selbstmorden von jungen Männern, die nicht in den Krieg wollen. Und es ist auch an der Zeit, uns gerechter und demütiger diesen Menschen von 1914 zu widmen. – Wir bekommen eine Art Panoptikum – oder wie Sie vorhin sagten, ein Gefühl von der Atmosphäre dieses Sommers. Wir erhalten auf diese Weise eine Innenansicht dieses bewegten Sommers 1914.
RALPH KRÜGER: Wir haben ja alle diese Zeit nicht mehr erlebt, aber aus dieser kaleidoskopischen Perspektive bekommt man, wie ich finde, eine gute Vorstellung davon, wie verschieden das Empfinden in dieser Zeit um den Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland gewesen war. – Wenn ich an meine Schulzeit denke, dann war der Erste Weltkrieg im Lehrplan längst nicht so präsent wie der Zweite Weltkrieg und die Nazizeit. Der Erste Weltkrieg wurde relativ flott abgearbeitet, und der berüchtigte „Geist von 1914“ wurde als kollektive Grundhaltung des deutschen Volkes beschrieben, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten gezogen hätte. Offenen Widerstand gegen die drohende Kriegsgefahr hätte es gar nicht gegeben, zumindest wurde in der Schule solch ein Bild vermittelt, von dem wir heute jedoch wissen, dass es so einheitlich niemals war.
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich glaube, das ist auch heute noch das stabile deutsche Geschichtsbild.
RALPH KRÜGER: Das sich doch hoffentlich differenzieren lässt.
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich sehe bei der Jubiläumsliteratur in diesem Jahr, dass es hierin viel um Diplomatiegeschichte, um Militär- und Politikgeschichte geht und dass viele Übersichtswerke erscheinen. Ich freue mich darüber, aber ich sehe nirgendwo ein Aufräumen mit diesen Mythen. Dabei ist dieser Mythos vom „Geist von 1914“ einer der letzten großen Mythen, die es aufzuräumen gilt… Über die Details der militärischen Entwicklungen und der Schlachten sind wir sehr gut informiert, diese Informationen liegen vor; auch die Ansichten zur Genese und zum Kriegsausbruch sind relativ stabil; aber wie die Menschen das alles wirklich erlebt haben, das war wirklich eine Lücke in der Literatur, die ich schließen wollte.
RALPH KRÜGER: Um einen Begriff aus der Literaturwissenschaft zu verwenden, handelt es sich bei Ihrem Buch um eine Art Rezeptionsgeschichte des Ersten Weltkriegs, indem Sie aus Tagebucheinträgen die Gefühle und Stimmungen Ihrer Protagonisten zu rekonstruieren versuchen. Sie stellen also die Frage, wie die Menschen die politischen Entwicklungen in jenem Sommer wahrgenommen haben.
TILMANN BENDIKOWSKI: Und ich gehe ja zum Schluss auch noch einen Schritt weiter und frage nicht nur danach, welche Erfahrungen die Menschen im Sommer 1914 gemacht haben, sondern ich begegne den Protagonisten in einer diskursiven Haltung: Während die Tagebuchschreiber nach vorne schauen, blicke ich ja quasi durch die Zeit auf sie zurück, und wir treffen uns im Text, um gemeinsam so etwas wie die historische Wahrheit heraus zu arbeiten. Aber ich entlasse sie ja nicht aus ihrer Verantwortung, sondern frage, konnten sie wirklich nicht ahnen oder wissen, was kommt? – Ich denke, sie hätten es zumindest versuchen können zu erahnen, was kommt.
RALPH KRÜGER: Mir sind bei der Lektüre dieser Tagebuchnotizen zwei Dinge durch den Kopf gegangen: Zum einen ist die Quelle Tagebuch immer auch quellenkritisch zu betrachten: Tagebücher sind Primärquellen, das ist keine Frage; jedoch wie schreibe ich ein Tagebuch? Schreibe ich es nur für mich? Oder schreibe ich es nicht vielmehr gleichzeitig auch für einen imaginierten Leser? Schreibe ich dann wirklich noch 1:1 meine Gefühle in das Tagebuch, oder gibt das Tagebuch nur eine geschönte Version meiner Gedanken wider? – Denken wir zum Beispiel an Professor Cartellieri: Als Historiker hat er sicherlich sein Tagebuch anders geschrieben als der junge Sozialist Eildermann…
TILMANN BENDIKOWSKI: Der Eildermann hat ein politisches Tagebuch geschrieben, ganz klar! Es war die Rechtfertigungsschrift eines Linkssozialisten, das musste alles so sein; er ist auch völlig hermetisch in seinem Denken. Es kann nur die Niederlage der Armee geben, die dann die Niederlage des Kapitalismus auslöst, die dann direkt in die sozialistische Revolution mündet. – Cartellieri hingegen ist eher der großbürgerliche Tagebuchschreiber; er schwadroniert: Wie hat Goethe es denn zu Kriegszeiten gemacht? Der hat sich auch erst einmal in seine Bücher vertieft. Und dann sitzt er da und guckt auf seinen Atlas: Was werden wir nehmen? Wahrscheinlich Französisch-Kongo, was ist denn mit Marokko… – er lässt da seinen Feldherrn-Phantasien freien Lauf, während die Volklehrerin Gertrud Schädla als gute Protestantin gewissenhaft, aufrichtig, gottesfürchtig dokumentiert, wie sie glaubt und lebt… – Aber ich gebe Ihnen Recht, dass alle diese Quellen als Ego-Dokumente zunächst noch quellenkritisch zu hinterfragen sind.
RALPH KRÜGER: Beziehungsweise ideologiekritisch zu hinterfragen, denn jeder dieser Tagebuchschreiber ist ja in seiner Welt sozialisiert: die protestantische Lehrerin genauso wie der junge Sozialist, der konservative Professor genauso wie der progressive Künstler. – Jeder hat doch auf das Weltgeschehen einen doppelten Blick, den Blick der eigenen Gefühlswelt und den durch seine subjektiven politischen Einstellungen gefilterten Blick auf die Wirklichkeit. Wir könnten auch einerseits von einer emotionalen Ebene und andererseits einer institutionalisierten Ebene sprechen, die durch Kirche, das universitäre Umfeld oder Parteien kommuniziert wird.
TILMANN BENDIKOWSKI: Genau das versuche ich in meinem Buch mit den Primärquellen zu verbinden. Ich versuche mir die Person zu greifen, mich quasi an ihre Seite zu stellen und mit ihr durch den Sommer 1914 zu gehen. Gleichzeitig versuche ich den Blick auf all diese institutionalisierten Ebenen zu richten, die Sie eben genannt habe: auf die Kirche, auf die Universitäten, die Gelehrten, die militärische Elite und auch auf die Sozialisten.
RALPH KRÜGER: War dieses breite Spektrum an unterschiedlichen sozialen Hintergründen auch ein Auswahlkriterium für Ihre Quellen?
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich wusste am Anfang eigentlich nur, welche Typen ich haben wollte. Ich wollte zum Beispiel einen Arbeiter haben, der ein Tagebuch schreibt. Dann haben wir gesucht, welche Arbeiter überhaupt autobiographische Texte geschrieben haben: wenige. Welche davon sind unbekannt, denn ich wollte nicht die üblichen, schon bekannten Quellen verwenden: noch viel weniger. – Dann wollte ich eine Frau vom Land haben, möglichst eine Bäuerin. Nun musste ich mich von der historischen Wirklichkeit belehren lassen, dass Frauen auf dem Bauernhof wahrlich anderes zu tun hatten, als Tagebuch zu schreiben. Wenn überhaupt, dann wurde die Tagebücher von männlichen Bauern tradiert. Und so habe ich mir die Typen entwickelt, ich wollte einen Intellektuellen, einen Professor, einen Soldaten usw. Nach der Recherche standen dann für jeden Typen mehrere Ergebnisse und Möglichkeiten zur Auswahl, und ich habe mich aus verschiedenen Gründen jeweils für die eine oder andere Person entschieden. Und es war klar, der Kaiser war gesetzt; ein Arbeiter, eine Frau vom Land, ein Intellektueller und ein Soldat.
RALPH KRÜGER: Bei der Lektüre fand ich die deutlich sichtbare Hermetik des Blickes der einzelnen Personen auf das Zeitgeschehen besonders spannend. Sie sprechen aber an anderer Stelle auch von den Möglichkeitshorizonten der Tagebuchschreiber, die eigentlich immer nur durch Reflexion, also durch eine kritische Haltung gegenüber der Gegenwart sich erweitern lassen, um eine Vorstellung von den vielfachen Möglichkeiten der Zukunft zu bekommen.
TILMANN BENDIKOWSKI: Sie haben Recht. Es sind ja mindestens zwei Personen dabei, deren Tagebucheinträge völlig hermetisch waren: Da ist einmal die Volkslehrerin Gerda Schädla mit ihrer protestantischen Glaubenshaltung, und es ist ja interessant, wie frappierend weg solch eine Haltung für uns heute schon ist. Frau Schädla verliert ihre beiden Brüder im Krieg, und sie erklärt es sich in und durch ihren Glauben an Gott. Das ist für uns heute 100 Jahre später eine unglaubliche emotionale und rationale Leistung, egal ob man diese Haltung nun teilt oder nicht. Gerda Schädla ist völlig hermetisch. Dass es eine Zukunft ohne den Kaiser und ohne Altar geben könnte, kommt ihr erst gar nicht in den Sinn. – Und der Eildermann, der junge Sozialist, ist auf seine Weise genauso hermetisch. Bei ihm geht es nur um politische Prozesse, um die Revolution und den kommenden Sozialismus.
RALPH KRÜGER: Diese sozialistische Haltung ist ja im Grunde auch sehr interessant: den Krieg zu befürworten, denn nur durch den Krieg wird sich der Kapitalismus selbst zugrunde richten und das Kaiserreich kollabieren, um einer zukünftigen sozialistischen Republik den Weg zu bahnen.
TILMANN BENDIKOWSKI: Das ist spannend, und das schreibt und denkt ein Siebzehnjähriger im Sommer 1914! Er kommt damit vier Jahre zu früh, aber es ist erstaunlich, wie weitblickend so ein junger Mann sein konnte. Natürlich ist der ideologisch eng und dogmatisch wie alle Linkssozialisten aus jener Zeit, aber in solch einer Klarheit hatte ich das vorher nirgendwo gelesen.
RALPH KRÜGER: Faszinierend ist auch der neue Blick auf Wilhelm II., der in seinen Tagebucheinträgen ein ganz anderes Bild vor dem geistigen Auge entstehen lässt, als was man aus den Geschichtsbüchern kennt. An einer Stelle schreibt er ja ganz offen: „Wenn man sich in Deutschland einbildet, daß ich das Heer führe, so irrt man sich sehr.“ – Das ist nicht nur eine interessante Selbsteinsicht, sondern differenziert das offizielle Bild des kriegerischen Kaisers…
TILMANN BENDIKOWSKI: Ja, stellen Sie sich das nur einmal vor: Der Kaiser stellt Moltke eine Generalvollmacht aus; er selbst ist zwar mittendrin, aber eben doch außen vor, ist quasi der Karnevalskaiser. Aber der Moltke, der die Generalvollmacht hat, bricht selber nach vier Wochen zusammen, dann ist wieder keiner da. – Man fragt sich aus heutiger Sicht, was die da eigentlich machen. Wie organisieren die da einen Krieg und ihre Oberste Heeresleitung? Und wie erlebt das dieser Kaiser? – Nach außen ist alles völlig klar: Der Kaiser wird gefeiert, der Kaiser führt die Armeen usw. Ich habe mich auch schon früher wirklich viel mit Wilhelm II. beschäftigt und war doch sehr überrascht, als ich im Rahmen der Recherchen für dieses Buch zu dieser Figur gekommen bin. So kannte ich ihn nicht, weil mich das vorher auch nicht interessiert hatte. Aber wenn Sie sich einmal damit beschäftigen, was hat er denn im Juli genau getan: eine Schiffstaufe, eine Nordlandreise und hier und da etwas eröffnet… Dann fällt Ihnen das in die Hände und Sie merken, dass sich der Kaiser in einer absoluten Parallelwelt bewegte.
RALPH KRÜGER: Ich muss gestehen, dass ich außerhalb meiner Schulzeit mit dem Ersten Weltkrieg eher weniger in Berührung kam…
TILMANN BENDIKOWSKI: … aber genau das prädestiniert Sie als einen Leser meines Buches! Ich habe ja mein Buch für eine breite Leserschaft geschrieben, die eben nicht noch ein weiteres 900 Seiten dickes Buch zur Diplomatiegeschichte lesen möchte. Sie haben vielleicht zehn Bücher darüber gelesen, wie es auf diplomatischer Ebene zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gekommen ist, und Sie haben es zehn Mal auch wieder vergessen. – Mir selbst ist es übrigens genauso gegangen…
RALPH KRÜGER: Ich denke, das Wichtigste ist, dass wir wirklich verstehen, dass der Zweite Weltkrieg ohne den Verlauf des Ersten Weltkriegs nicht denkbar war. Der Erste Weltkrieg ist insofern sehr wichtig. Deshalb spricht man auch in England und Frankreich vom Großen Krieg; in Deutschland hingegen wird er immer etwas stiefmütterlich behandelt und auch noch nicht in demselben Umfang rezipiert worden wie der Zweite Weltkrieg. – In diesem Zusammenhang fällt mir gerade auch noch ein sehr schönes und geradezu bizarres Detail ein, das Sie im Buch erwähnen: Ich meine die skurril erscheinende Depesche, die Wilhelm II. an den russischen Zaren schickt, in der er ihn duzt und schreibt: „Ich habe gestern Deiner Regierung den Weg angegeben, durch den allein der Krieg verhindert werden kann.“ und mit dem lakonischen Satz endet: „Ich war daher genötigt, meine Armee mobil zu machen.“ – Mal abgesehen davon, dass hier Deutschland Russland den Krieg erklärt hat, ist ja aus heutiger Sicht die Tatsache bemerkenswert, dass viele Staatsoberhäupter oft auch miteinander verwandt waren. Wir haben also eine ganz kleine Schicht von Königshäusern und Adeligen, die sich nicht vertragen und in ihren Bündnissen gefangen sind, woraus sich in einem Dominoeffekt ein Flächenbrand entzündet, der in einen Ersten Weltkrieg mündet.
TILMANN BENDIKOWSKI: Und dann stehen dazwischen noch die Militärs, die zum Teil kolossale Fehlentscheidungen trafen, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Russland gar nicht so schnell mobil machen könnte, so dass man zunächst im Westen siegen könne, bis der Krieg im Osten weiter ginge. Dass seit dieser Annahme viel passiert war, sah man zum Beispiel daran, dass die Westttrassen der Eisenbahn in Russland gebaut wurden. Dass dies vermutlich auch im Westen bekannt war, jedoch nicht bewusst wahrgenommen wurde, ist auch frappierend. Viele wissen heute gar nicht mehr, dass bereits wenige Wochen nach Beginn des Krieges große Teile des Deutschen Reiches russisch besetzt waren. Die Stammlande des preußischen Königs – Wilhelm hatte mal wieder ganz schlimm mit den Nerven zu tun – Tilsit und große Teile Ostpreußens waren plötzlich russisch besetzt! Obwohl alle gesagt haben, das kann nicht sein, war es plötzlich doch Realität. Niemand hatte vorher geglaubt, dass Russland in der Lage sein könnte, binnen einer geraumen Zeit Soldaten zu akquirieren. Für mich ist es unvorstellbar, wie man als Militär überhaupt zu solche einer Vorstellung gelangen konnte.
RALPH KRÜGER: Wie sah es eigentlich mit der Einschätzung der Wirkungsweise der neuen Militartechnologien auf Seiten der Militärs: Wussten die wirklich, welche Möglichkeiten ihnen da auf technologischer Seite zur Verfügung standen und welche Zerstörungskräfte die neuen Artilleriegeschütze hatten? War denen bewusst, dass durch die neuen Verteidigungswaffen der alte Angriffskrieg nicht mehr zu führen war und dass es zu verheerenden Stellungskriegen kommen würde?
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich weiß, dass es immer den Mythos des Angriffs gab. Plötzlich ging es aber um die Fähigkeit zu einer gelungenen Verteidigung und Abwehr. Die Franzosen machen genau das: Sie lassen die Deutschen laufen und ziehen sich geordnet zurück. Die Deutschen wunderten sich, dass es gar keine Kriegsgefangenen gab und auch keine erbeuteten Waffen. Das sind doch keine rechten Siege… Und dann sammeln sich die alliierten Kräfte, um dann zum Gegenschlag auszuholen und den deutschen Vorstoß endgültig zum Stehen zu bringen. Das Andere ist diese Eigentümlichkeit der Unterschätzung der neuen Waffentechnologien: Das neue Tötungsinstrument ist ja die Artillerie. Nicht das Bajonett und auch nicht das Maschinengewehr ist die neue Waffe des Ersten Weltkriegs, sondern die Artillerie. Und trotzdem betrachten die Armeeführer fast aller Armeen immer noch den Sturmangriff auf die feindlichen Stellungen als probates Mittel der Kriegsführung in den ersten Monaten. Das war wirklich altmodisch bis zum Atavismus. Deshalb gab es ja auch auf deutscher Seite während der ersten drei Monate bis Oktober die höchsten Verlustraten des ganzen Krieges.
RALPH KRÜGER: Es wird ja immer wieder behauptet, dass man aus der Geschichte lernen könne. – Gibt es irgend etwas, was wir Ihrer Meinung nach aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges für unsere aktuelle Situation lernen können?
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich glaube, wenn man etwas lernen kann, so ist es bei den Fragen von Krieg und Frieden das genauere Hinhören auf die Antworten in der Bevölkerung und das differenzierte Analysieren von Zustimmung und Ablehnung; dies sollte mit Verständnis und Demut erfolgen. Auch heute und in den letzten Jahren haben wir als Deutsche – Sie genauso wie ich – Entscheidungen über Militäreinsätze mitgetragen. Wir haben Regierungen gewählt, die in den Krieg gezogen sind. Ich habe eine Regierung gewählt, die gegen geltendes Völkerrecht im Kosovo an einem Krieg teilgenommen hat; dazu muss ich mich verhalten. Wir wissen nicht, wie es aktuell weiter geht, aber deutsche Soldaten sind im Prinzip in aller Welt unterwegs, und wir müssen uns alle dazu verhalten, weil wir als Wähler und als Staatsbürger uns da nicht rauswinden können. – Und ich denke, ein differenzierter Blick auf diesen Sommer 1914 kann uns lehren, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, die Fragen von Krieg und Frieden für sich und in Verantwortung für andere zu beantworten. Die Frage, wie sich Deutsche zu Krieg und Frieden verhalten, ist nach hundert Jahren so aktuell wie heute. Doch dann einfach nur mit einem Mythos zu kommen, dass damals alle für einen Krieg gewesen wären, ist genauso ein Mythos, wie zu sagen, dass beim Golfkrieg alle Deutschen dagegen gewesen wären. Das stimmt nicht, das wird der Wahrheit nicht gerecht, und das hilft uns auch nicht weiter. Leider ist diese Frage nach Krieg und Frieden und wie wir Deutsche darauf reagieren, immer noch aktuell.
RALPH KRÜGER: Kommen wir noch einmal auf Ihr Buch zu sprechen. Wie lange haben Sie für dieses Buch gebraucht?
TILMANN BENDIKOWSKI: Die Konzeption dauerte etwa vier Jahre und die reine Verschriftlichung noch einmal etwa zwei Jahre.
RALPH KRÜGER: Aber wie entstand die Idee zu diesem Buch? War es das Jubiläumsjahr 2014, das Sie inspirierte?
TILMANN BENDIKOWSKI: Irgendwann noch weit vor dem Jubiläum hatte ich in einem Urlaub die Idee, ein solches Großereignis in der Wahrnehmung aufzubrechen durch biographische Zugänge – die Biographie als Weg in das Überbiographische, in die Struktur. Danach kam dann relativ schnell die Idee, dies am beispiel des Ersten Weltkriegs zu versuchen, da macht es am meisten Sinn, da haben wir schon genügend Material, mit dem wir arbeiten könnten.
RALPH KRÜGER: War auch das Buch von Peter Englund [„Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen“, Rowohlt Berlin 2011] ein Impulsgeber?
TILMANN BENDIKOWSKI: Ja, das Buch von Peter Englund ist auch sehr interessant, aber Englund hat sich auf die ganze Zeit des Ersten Weltkriegs bezogen, und er hatte auch kein erzählerisches Ziel. Er erzählt aus einer bestimmten Perspektive, das ist legitim. Ich jedoch hatte eine Frage, die ich mit meinem Buch beantworten wollte, nämlich die Frage nach der Kriegsbegeisterung. Und ich habe auch Antworten in meinem Material gefunden. Das Material führte mich zu der Beantwortung meiner Frage nach dem Wie.
RALPH KRÜGER: Wie sieht es denn mit neuen Projekten aus? Woran arbeiten Sie gerade?
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich sitze gerade an einem Buch über den deutschen Bruderkrieg und betrachte da die fünfhundert Jahre Konfliktgeschichte zwischen Protestanten und Katholiken in Deutschland – in ihrem Konfliktverhalten untereinander und gegen Dritte. Das ist eine sehr umfangreiche Aufgabe, aber das Buch wird trotzdem nicht dicker werden als das aktuelle. Es geht darin um die Fragen, was es mit den Deutschen gemacht hat, permanent in einem latenten konfessionellen Bürgerkrieg groß zu werden, und welche Strukturen und welches Kommunikationsverhalten sich dann am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die politische Kultur und für die Zivilgesellschaft als Erbe aus jener jahrhundertelangen Konfliktgeschichte entwickelt haben.
RALPH KRÜGER: Das klingt auch sehr spannend. Dann dürfen wir uns schon jetzt auf Ihr kommendes Buch freuen, doch zunächst sei den Lesern Ihr aktuelles Buch „Sommer 1914“ wärmstens empfohlen! – Herr Bendikowski, vielen Dank für dieses interessante Gespräch!
TILMANN BENDIKOWSKI: Ich danke Ihnen.
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