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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Hans Ostwald: „Berlin — Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904-1908“

Am: | Dezember 22, 2020

Vor uns liegt ein Buch, auf das ich persönlich lange gewartet habe. Es handelt sich um eine Auswahl von Texten aus den „Großstadtdokumenten“, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Hans Ostwald herausgegeben und zum Teil auch von ihm selbst verfasst wurden. Lange Zeit waren diese Texte in Vergessenheit geraten und wurden nur zu Forschungszwecken herangezogen, wenn es um die Berliner Stadtgeschichte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ging.

Es war vor allem das Verdienst von Bernd Jazbinsek und Ralf Thies, die „Großstadtdokumente“ in ihrem kulturellen und soziologischen Kontext erforscht zu haben; Ralf Theis hat auch eine bemerkenswerte Biographie über Hans Ostwald verfasst.

Nun haben seit einiger Zeit die populären Romane von Volker Kutscher und die TV-Serie „Berlin Babylon“ das allgemeine Interesse des Lesepublikums an das Berlin der 1920er Jahre geweckt, doch wie sah das Leben in Berlin eigentlich in den Jahrzehnten davor und vor dem Ersten Weltkrieg aus?

War es denn wirklich jene „gute alte Zeit“, in der die Menschen im Kaiserreich lebten? Wie sah der Alltag in jener Zeit und in dieser Welt aus, die einerseits spätestens im Weltkrieg für immer untergegangen ist und die andererseits in manchen Dingen immer mal wieder ganz modern wirkt? Das Leser-Interesse ist so groß, dass sich der Verlag Galiani Berlin jetzt traut, den zahlreichen historischen Berlin-Publikationen ein echtes Original gegenüber zu stellen: die zwischen 1904 und 1908 entstandenen „Großstadtdokumente“, herausgegeben von Hans Ostwald.

In seiner wundervollen und von großer Fachkenntnis geprägten Einführung informiert Thomas Böhm nicht nur über die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die „Großstadtdokumente“ konzipiert, produziert und publiziert wurden, sondern er liefert dem interessierten Leser auch noch einen biographischen Abriss des bewegten Lebens von Hans Ostwald.

Doch wer war eigentlich dieser Hans Ostwald? — Sein Leben ist so interessant, dass es an dieser Stelle wenigsten kurz skizziert werden muss: Ostwald war Jahrgang 1873 und selbst Zeuge der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich Berlin seit den 1870er Jahren entwickelte. Die Gründerjahre und der wirtschaftliche Aufschwung jener Zeit machten Berlin zum Zentrum und zur Hauptstadt des 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Aus der preußischen Garnisonsstadt wurde eine Großstadt, die immer schneller wuchs.

Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit in die Städte, und die zweite industrielle Revolution führte zu einem umwälzenden wirtschaftlichen Wandel, der die Landflucht der Arbeitssuchenden nur noch verstärkte. Hans Ostwald hatte sich nach einer abgeschlossenen Handwerkslehre nicht auf die übliche Walz begeben, sondern sich „aus einem romantischen Trieb“ den Landstreichern angeschlossen, von deren freiem und ungebundenen Leben er fasziniert war.

Bald begann Hans Ostwald, über seine Erlebnisse zu berichten, er begann zu schreiben und kleine Artikel in der „Welt am Montag“, einem Berliner Tageblatt, zu veröffentlichen. In dieser Zeitung wurde besonderen Wert auf das Feuilleton gelegt, und hier war Ostwald in guter Gesellschaft: Zu den Beitragenden der Tageszeitung gehörten unter Anderen Kurt Eisner, Gustav Landauer und Alfred Kerr.

Das Leben der „Vagabunden“ lieferte auch das Sujet seiner ersten Romanveröffentlichung. Seine lebensnahen Beschreibungen aus dem Landstreicher-Milieu machten Ostwald schnellbekannt und verliehen seinen Texten eine große Authentizität.

Die Erfahrung der Großstadt als einen Moloch, der sich von Menschen ernährt, der sie anlockt und verschlingt, hat nicht nur viele Menschen, die in der Großstadt lebten, geprägt, sondern auch Künstler und Literaten versuchten diese Erfahrung künstlerisch darzustellen. Die unübersichtliche und unfassbare Stadt mit den unzähligen Straßen, dem tosenden Verkehr, den Menschenmassen, die morgens in die Fabriken strömten und abends wieder in die Straßen fluteten, der Lärm, der Dreck und auch das simultane Nebeneinander von Arm und Reich — all das waren Schockerlebnisse, die nicht nur den ländlichen Besucher der Städte überwältigten; auch der Städter selbst war permanent mit dieser brausenden und überfordernden Großstadt-Realität konfrontiert.

Philosophen wie Georg Simmel versuchten sich dem Phänomen des Großstadtlebens kulturkritisch zu nähern; sein berühmter Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 ist ein gutes Beispiel für diesen Ansatz. Simmels Aufsatz war seinerzeit nur wenigen Lesern bekannt — ganz im Gegensatz zu den „Großstadtdokumenten“, die sehr populär waren und eine breite Leserschaft fanden.

Aber auch die Literatur — vor allem die französische — sah es als ihre Aufgabe an, das Großstadtleben in neuen literarischen Formen zu beschreiben; stellvertretend für viele andere sei hier nur Émile Zola genannt. Doch Zolas Romane sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.

Hans Ostwald war der festen Überzeugung, dass man zu Beginn des 20. Jahrhundert den Moloch der Großstadt nicht mehr in einem einzigen Roman literarisch erfassen könne, wie es seinerzeit noch einem Émile Zola im 19. Jahrhundert für die französische Gesellschaft gelungen war. Die einzige Möglichkeit, jene geradezu unüberschaubare Vielfalt des großstädtischen Lebens zu beschreiben, wäre eine Vielzahl von kurzen Texten, von Einblicken in die unterschiedlichsten Milieus, welche in ihrer Gesamtheit ein Mosaik bildeten, das jenem erforderlichen, multiperspektivischen Blick auf die Großstadt entspräche.

Diese Idee bildete die Grundkonzeption der „Großstadtdokumente“. Sie umfassen genau 50 Bände mit insgesamt über 5.000 Seiten. Ursprünglich sollte diese Reihe nur zwanzig Bände umfassen: zehn über Berlin und zehn über Wien. Ganz paritätisch sollten beide Großstädte miteinander verglichen und ihre spezifischen Eigenarten und Besonderheiten gegenübergestellt werden. Schon bald wandte sich Ostwald von diesem Konzept ab und erweiterte die Reihe auf insgesamt 50 Publikationen.

Die „Großstadtdokumente“ sollten dem Leser als Wegweiser durch das Labyrinth der Großstadt dienen und über „die sittlichen und sozialen Zustände unserer modernen Großstädte Licht verbreiten“, wie es im Vorwort zur ersten Ausgabe hieß, die Hans Ostwald selbst verfasste: „Dunkle Winkel in Berlin“ befasste sich gleich mit den Nachtseiten des Berliner Großstadtlebens und gab den Ton der ganzen Reihe vor.

Thomas Böhm ist es gelungen, für diese Publikation aus den fünftausend Seiten der „Großstadtdokumente“ eine repräsentative Auswahl von Szenen und Reportagen zusammen zu stellen, die dem Leser nicht nur die Anfänge der Großstadt Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahebringen, sondern auch einen ersten Zugang zu dieser faszinierenden und abwechslungsreichen Publikations-Reihe eröffnen.

Viele bekannte Namen zählten zu den Beiträgern dieser Reihe: Edmund Edel, Julius Bab, Max Winter, Felix Salten, Magnus Hirschfeld. Gerade Letzterer gilt als Gründer des weltweit ersten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin als bedeutender Wissenschaftler und Vorkämpfer für die Rechte der Homosexuellen.

Die „Dokumente“ waren aber nicht nur bei den Zeitgenossen populär; sie gelten auch als ein frühes Beispiel stadtsoziologischer Forschung, das eine nachhaltige Wirkung auf die Wissenschaft hatte. Vor allem die „Chicagoer Schule“ der Stadtsoziologie um Louis Wirth und Robert Park griffen das deutsche Vorbild der „Großstadtdokumente“ in den 1920er Jahren auf und entwickelten daraus ihre empirischen Ansätze.

So entsprang der Forschungsansatz einer „teilnehmenden Beobachtung“ der Chicago School of Sociology der Herangehensweise, mit der sich Ostwald in seinen detaillierten Beschreibungen der Großstadt näherte. In den Texten der „Großstadtdokumente“ wechseln sich kurze Beschreibungen mit längeren Passagen ab, in denen die Figuren selbst „zu Wort“ kommen. Hier kamen Ostwald seine als Journalist erlernten Arbeitstechniken des schnellen Mitschreibens und Skizzierens zugute. Gerade diese oftmals durch starken Dialekt gefärbten Passagen verleihen den Bänden dieser Reihe ihre starke Authentizität.

Bereits 1907 erkrankte Ostwald an Neurasthenie, einer Überempfindlichkeit der Nerven — in jener Zeit um die Jahrhundertwende bei vielen Menschen die Folge einer permanenten Überreizung der Sinne durch die Erfahrung der Großstadt, ein wenig vergleichbar mit unserem heutigen Burnout.

Schon damals verwandelte sich Ostwalds Faszination für die Großstadt in eine zunehmend kritische Haltung. Ostwald verfasste eine „Berliner Kultur- und Sittengeschichte“, gab in den 1920er Jahren das „Zille-Buch“ und den „Urberliner“ heraus und wurde zunehmend als volkstümlicher Berlin-Autor wahrgenommen. In den 1930er Jahren biederte er sich den Nationalsozialisten an und trat sogar dem Kampfbund für deutsche Kultur“ bei.

Umso strahlender erscheinen uns aus dieser Perspektive jene frühen Publikationen aus den Nuller-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In ihnen hat Hans Ostwald nicht nur alltagsgeschichtliche Pionierarbeit geleistet, sondern auch ein unglaublich facettenreiches Bild jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konserviert, in dem sich Berlin als eine lebendige und moderne Großstadt präsentiert.

Für den heutigen Leser ist dieser Blick zurück in eine Vergangenheit vor über 100 Jahren sowohl faszinierend als auch inspirierend. Wer heute diese Reportagen aus dem prallen Leben eines quirligen Berlins der Gegensätze liest, kann eigentlich nicht anders, als gleich vor die Tür zu gehen und sich in eben jene Bezirke zu begeben, von denen die Reportagen berichten.

Diese spontane Reaktion auf den Text bleibt dem Berliner Leser vorbehalten; aber auch alle anderen werden sich nach dieser Lektüre wohl bald wieder auf den Weg nach Berlin machen, sobald es die aktuelle Lage der Corona-Pandemie wieder zulässt. — Doch bis es wieder so weit ist, kann man sich mit diesem wundervollen Buch und der gelungenen Auswahl aus den „Großstadtdokumenten“ schon mal bestens auf einen solchen Hauptstadtbesuch vorbereiten!

 

 

Autor: Hans Ostwald
Titel: „Berlin — Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904-1908“
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
ISBN-10: 3869711930
ISBN-13: 978-3869711935

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