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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Sven Hanuschek: „Wir leben noch — Ida und Erich Kästner, Kurt Vonnegut und der Feuersturm von Dresden. Eine Zugfahrt“

Am: | November 20, 2018

Liest man den Titel dieses kleinen Büchleins genau, so besteht die Möglichkeit einer einstweiligen Verwirrung. Zu viel scheint da neben- und nacheinander zu stehen — Erich Kästner und seine Mutter Ida, Kurt Vonnegut, der Feuersturm von Dresden und dann noch eine Zugfahrt? Und doch hält das Buch genau das Versprechen, das der sperrige Titel gibt.

Der Germanist Prof. Dr. Sven Hanuschek kann ohne Übertreibung auch international als der größte Kästner-Experte bezeichnet werden. Wohl kaum einer kennt sich derzeit mit dem Werk und Leben von Erich Kästner besser aus. Nicht nur hat Hanuschek 1999 eine äußerst lesenswerte Kästner-Biographie geschrieben und (unter Anderem) 2013 mit „Der Gang vor die Hunde“ erstmals den Originaltext von Kästners „Fabian“ herausgegeben, jüngst erschien auch seine kommentierte Ausgabe von Kästners „Blauem Buch“ mit den geheimen Aufzeichnungen aus der Zeit des Dritten Reiches.

Die intensive Beschäftigung mit dem Leben und Werk Kästners lassen Hanuschek nicht mehr los. So war es eine geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass er sich, nachdem das Deutsche Literaturarchiv Marburg vor einigen Jahren auf einer Auktion ein bislang unbekanntes Briefkonvolut von Ida Kästner, Erich Kästners Mutter, angekauft hatte, sich auch mit diesen neuen Briefen auseinandersetzen und literarisch verwerten würde.

In der Nacht vom 13. Auf den 14. Februar 1945 wurde die Dresdner Altstadt durch alliierte Bomberverbände in drei Wellen nahezu komplett zerstört. Ida und Emil Kästner, die Eltern des Dichters, lebten seinerzeit immer noch in der Dresdner Neustadt. Täglich gingen die Briefe zwischen der Mutter und dem Sohn hin und her. Es war der enge Kontakt zu ihm, der sie am Leben hielt. Mutters Sohn war weit weg, in Berlin, der Hauptstadt, in der und um die ebenfalls starke Kämpfe tobten.

Bei der Bücherverbrennung 1933 in Berlin wurden auch Kästners Schriften ins Feuer geworfen. Für die Nationalsozialisten stand Erich Kästner zusammen mit Heinrich Mann und Ernst Glaeser für „Dekadenz und moralischen Verfall“ sowie gegen „Zucht und Sitte in Familie und Staat“. Kästner erhielt ein Schreibverbot, schrieb aber unter Pseudonymen weiter, unter Anderem auch Drehbücher für die UFA.

Trotz seines Berufsverbots und der Gefahr durch Verfolgung blieb er in Deutschland. Während Freunde nach und nach das Land verließen und ins Exil gingen, wollte Kästner als Zeitzeuge die dunkle Zeit miterleben und, wenn alles wieder vorbei ist, Bericht erstatten. Sicherlich nicht zuletzt blieb er aber auch wegen seiner Mutter. Kästner notierte heimlich und in Gabelsberger Kurzschrift in sein „Blaues Buch“, was er sah und hörte. Daraus sollte einmal ein Roman über das Dritte Reich werden — ein Roman, den Kästner aber nie geschrieben hat.

Als die Bomben auf Dresden fielen, war Kästner noch in Berlin. Durch das Bombardement war der Postweg für einige Tage unterbrochen, die Ungewissheit auf beiden Seiten groß. Wie es dem alten Muttchen wohl geht? — Ob der Junge schon Post bekommen hat und weiß, dass uns nichts passiert ist?

Als die alliierten Bomben auf Dresden fielen, war auch Kurt Vonnegut dort. In seinem Roman „Schlachthof 5“ versucht er, die grauenhaften Ereignisse und die eigenen Erlebnisse in Worte zu fassen und literarisch zu bewältigen; erst Ende der 1960er ist er in der Lage, umfassend darüber zu schreiben.

„Wir leben noch“ ist ein Essay. Es ist ein Gedankenspiel, dem diese Collage zugrunde liegt. Was wäre, wenn sich Ida Kästner und Kurt Vonnegut im zerbombten Dresden begegnet wären? Vielleicht war es ja so! Möglich wäre es durchaus gewesen. Vonnegut musste als Kriegsgefangener die Leichen aus den Trümmern bergen und am Straßenrand aufschichten, damit sie verbrannt werden konnten. Auf ihrem täglichen Weg zum Hauptbahnhof und zur Poststelle könnte Ida Kästner an diesen Einsatzgruppen vorbeigegangen sein.

Der liebe herzensgute Junge, Erich, schrieb der Mutter jeden Tag. Es war ein Ritual, das beide pflegten. Es waren kurze Berichte, welche die beiden, Mutter und Sohn, täglich austauschten: dass alles gut ist, welche Schäden die Nachbarn zu beklagen hatten, dass die Wäsche gut angekommen war usw.

Die Zugfahrt: Sven Hanuschek macht sich nach der Lektüre der Briefe auf, um mit dem Zug von München nach Dresden zu fahren. Recherche vor Ort. Auf der Reise kommt er ins Sinnieren. Schreibt auf, was ihm einfällt und was ihn bewegt. Der Blick aus dem Zugfenster wird immer wieder überblendet von anderen Zeitebenen, vergangenen Kriegen. Aus diesem Text, in den auch der Leser zu Beginn dieses Büchleins einsteigen kann wie in einen Zug, entwickelt sich nach und nach ein vierstimmiger Kanon (Ida und Erich Kästner, Kurt Vonnegut und der Autor selbst); Brief- und andere Textpassagen werden zitiert und einander gegenübergestellt.

Wir fahren mit dem Zug nach Dresden, lesen von den Zerstörungen der Bombennächte, von den Sorgen der Überlebenden, den Opfern unter der Zivilbevölkerung. Wir lesen Alltägliches aus der familiären Korrespondenz, das sich abwechselt mit Passagen aus „Schlachthof 5“, Kurt Vonneguts Roman. So entsteht vor unserem Auge eine imaginäre Stadtlandschaft in Grau und Schwarz; so bekommen wir lesend einen neuen Zugang zu den Ereignissen jener Tage im Februar 1945.

Sven Hanuscheks „Wir leben noch“ ist ein schmales Büchlein, welches man leicht in einem Rutsch durchlesen kann. Doch so schnell man es durchgelesen hat, so schnell wird man es nicht wieder vergessen, denn es ist eine Collage aus Originalpassagen, literarisch überformt und zusammengebunden durch eine Rahmenhandlung (der Zugfahrt). Das liest sich recht flott, bleibt aber noch lange schwer im Magen liegen. Also: ein Buch mit Nachwirkungen — ein schmales, aber wichtiges Büchlein.

 

 

 

Autor: Sven Hanuschek
Titel: „Wir leben noch — Ida und Erich Kästner, Kurt Vonnegut und der Feuersturm von Dresden. Eine Zugfahrt“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Atrium Verlag
ISBN-10: 9783855350346
ISBN-13: 978-3855350346

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