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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Thomas Bauer: „Die Vereindeutigung der Welt — Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“

Am: | August 21, 2018

Fragt man die Leute auf der Straße, so würde die große Mehrheit, unabhängig davon, ob sie dies gutheißen würde oder nicht, der Ansicht sein, dass wir in einer liberalen, multikulturell gewachsenen und offenen Gesellschaft lebten. Doch stimmt das wirklich? Wird unsere Welt wirklich immer bunter, komplexer und vielfältiger? Oder erleben wir nicht eher genau die entgegengesetzte Entwicklung hin zu weniger Vielfalt und Mehrdeutigkeit?

Denken wir an das Insektensterben und den Rückgang der Artenvielfalt in den großen Ballungsräumen! Denken wir an die Tomaten im Supermarkt, die alle so unterschiedlich aussehen, aber am Ende doch fast gleich schmecken. Oder denken wir daran, dass sich die großen Städte immer ähnlicher werden, so dass wir uns selbst an unbekannten Orten relativ schnell zurechtfinden, weil uns viel Vertrautes umgibt. „Überall ist eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit zu beobachten“, meint Thomas Bauer, der Autor des vorliegenden kleinen Büchleins über „Die Vereindeutigung der Welt“.

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Ursachen: „die Verstädterung, die größere Mobilität, die Globalisierung […], die industrielle Landwirtschaft, den Klimawandel, die Monopole der großen Lebensmittelkonzerne wie generell die kapitalistische Wirtschaftsweise“. Der Kapitalismus hat sich trotz aller sozialen Ungleichheiten und Verwerfungen weltweit als die stärkste Ideologie durchgesetzt, und ein Ende des Kapitalismus ist trotz aller Prophezeiungen nicht abzusehen.

Eng mit dem Kapitalismus verbunden ist jedoch eine „moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt“. Mit anderen Worten, ist er eng verbunden mit einer starken Ambiguitätsintoleranz. – Einer was?

Bevor wir hier weiterdenken, muss zunächst einmal erklärt werden, was unter Ambiguität zu verstehen ist: Im Deutschen verwendet man außerhalb des Wissenschaftsbetriebs den Begriff „Ambiguität“ nur recht selten. Das ist im französischen und englischen Sprachraum ganz anders. Hier sind „ambiguity“ bzw. „ambiguité“ gängige Alltagsbegriffe, die für jeden verständlich sind. In diesem Essay von Thomas Bauer geht es um Ambiguität. Was ist damit gemeint?

Mit dem Begriff Ambiguität umschreibt man Phänomene der „Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden.“ An der Frage, wie wir mit den ambigen Phänomenen in unserer Welt umgehen, entscheidet sich, ob wir eher ambiguitätstolerant oder -intolerant sind.

Thomas Bauer ist der Ansicht, dass die kapitalistische Wirtschafts- und Lebensweise eng verbunden ist mit einer starken Ambiguitätsintoleranz. Darin ist er dem Fundamentalismus sehr ähnlich, egal ob es sich um einen religiösen, politischen oder ästhetischen Fundamentalismus handelt.

„Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben“ sind die drei Wesenszüge von Ambiguitätsintoleranz: Man versucht die ambige (mehrdeutige) Wirklichkeit auf eine einzige Wahrheit zu reduzieren; man negiert die Historizität jeder gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung; und man achtet streng darauf, dass die verkündeten Wahrheiten nicht durch fremde Einflüsse verwässert werden.

Das vorliegende Buch von Thomas Bauer hat seit seinem Erscheinen im Februar 2018 ein breites mediales Echo in der Öffentlichkeit erfahren. Bereits in der 8. Auflage (Stand: Mitte August 2018) gedruckt, erscheint nun auch eine Sonderauflage im Großdruck, die das Lesen bei schlechtem Licht (oder abends auf dem sommerlichen Balkon) erleichtert, damit wirklich jeder in den Genuss dieser hochinteressanten und brisanten Lektüre kommen kann.

Seit Wochen hält sich der Titel auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, so dass man sich fragt, wer hinter diesem kämpferischen Text steht: Thomas Bauer ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. Seine Forschungen umfassen Themen der Kulturgeschichte und der Historischen Anthropologie. So befasste er sich unter anderem mit den Themen Liebe und Sexualität, Tod, Religion, Fremdheit und Ambiguitätstoleranz. Aus der intensiven Beschäftigung mit dem letztgenannten Themenkomplex heraus könnte auch dieser Essay entstanden sein, in dem sich der Autor als ein scharfer Zeitkritiker zu erkennen gibt.

Thomas Bauer zeigt sehr anschaulich anhand von Religion, Kunst und Politik, wie fundamentalistisch heutzutage der Kampf um die Vereindeutigung der Welt in diesen Bereichen geführt wird. Doch der Fundamentalismus ist nur eine Möglichkeit, mit den Ängsten und der Überforderung, die durch die Uneindeutigkeit der Wirklichkeit entstehen, umzugehen. Man kann der Vielfalt und Mehrdeutigkeit auch durch Abwertung begegnen. Indem die Vieldeutigkeit eines Phänomens so stark überbetont wird, dass es am Ende quasi alles bedeuten kann, bedeutet es gleichzeitig nichts. Wenn jedoch etwas nichts mehr bedeutet, wird es bedeutungslos.

Der Autor erklärt dies u. a. am Beispiel der modernen Kunst: „Ambiguität bedeutet ‚Mehrdeutigkeit‘, ‚Vieldeutigkeit‘, bedeutet also das Potenzial, viele verschiedene Bedeutungen und Assoziationen zu vermitteln.“ Im Gegensatz zu solchen ambigen Kunstwerken, welche verschiedene Deutungen und Assoziationen zulassen, befindet sich die Kunst heute in einer Krise; denn es ist oft nur noch eine „Ästhetik der Glätte“ (Byung-Chul Han), durch die sich die Werke besonders erfolgreicher Künstler wie Jeff Koons auszeichnen.

Letzten Endes können diese Werke alles und nichts bedeuten. Es sind oftmals Werke von großer Schönheit, aber ohne Bedeutung. Die richtige Interpretation wird dem Betrachter gleich mitgeliefert, er selbst braucht sich mit dem Werk nicht mehr auseinanderzusetzen. Solche Kunst wird bedeutungslos, und ihre Bedeutungslosigkeit macht es dem Kunstbetrachter leicht, denn er braucht keine Toleranz gegenüber ambigen Interpretationen zu üben und keinen Widerstand auszuhalten. Das Kunstwerk löst nichts in ihm aus, es bleibt ungefährlich.

Gleichwohl ist die Kunst dadurch noch nicht entwertet, denn der Markt springt ein: „Die Unsicherheit und Unbestimmtheit ihres Wertes als Gegenstand der Rezeption wird in eine andere Sprache übersetzt, die des Geldes. Die versteht jeder, aber in ihr gibt es keine Worte [und keinen Platz] für Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit“.

Ähnlichen Phänomenen begegnet man auf dem Gebiet der Religion. Es ist unbestritten, dass der Stellenwert des Religiösen in unserer Gesellschaft immer weiter abnimmt und noch nie so niedrig war wie heute. Gleichwohl können wir ein Erstarken vor allem fundamentalistischer Gruppen beobachten. Wie geht das zusammen? — Auch hier lassen sich zwei extreme Reaktionen im Umgang mit Ambiguitätsintoleranz beobachten.

Einerseits wird Religion unwichtig und bedeutungslos. Jeder kann an das glauben, woran er glauben möchte. Oder eben auch an gar nichts glauben, wofür sich mittlerweile die Mehrheit entschließt. Alle Religionen haben dasselbe Daseinsrecht, sie sind alle gleich gültig, und genau das macht die meisten gleichgültig gegenüber den religiösen Angeboten und Praktiken der Anderen.

Auf der anderen Seite löst die Unfähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten (also die Ambiguitätsintoleranz), jene fundamentalistischen Reaktionen aus, die wir oben bereits kennengelernt haben: Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben. Der (religiöse) Fundamentalist meint sich im Besitz der einzigen Wahrheit (der Heiligen Schrift usw.); diese Wahrheit war und ist immer und ewig gültig; Anders- und Nichtgläubige werden abgewertet oder gar bekämpft.

Thomas Bauer zeigt in seinem luziden Essay, wie stark unsere Gesellschaft sich gerade an diesem Punkt — dem Umgang mit Vielfalt und Mehrdeutigkeit — spaltet. Er bringt aber noch zwei weitere Begriffe ins Spiel, die den Zeitgeist noch genauer widerspiegeln: die Forderung nach Authentizität und die Suche nach Identität.

Wir unterliegen einem „Authentizitätswahn“, diagnostiziert der Autor. Alles soll heutzutage „authentisch“ sein, doch was bedeutet das eigentlich? — „Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt.“ Somit ist Authentizität genau das Gegenteil von Kultur.

Denn Kultur umfasst gewisse kollektiv sanktionierte Praktiken, die den Umgang mit den Anderen erst ermöglichen, indem sie zum Beispiel eine soziale Kontrollfunktion gegenüber den eigenen ungefilterten Handlungsimpulsen ausüben. Das unterscheidet den Kulturmenschen vom Naturmenschen, und das ist auch sinnvoll, solange man nicht allein auf einer Insel, sondern in einer Gesellschaft lebt. Alles Andere wäre vielleicht „natürlich“, aber nicht mehr sozialverträglich. Nach Denkart der Verfechter der Authentizität jedoch verfälscht die Kultur die menschliche Natur. „Folglich ist der Mensch als Kulturwesen nie völlig identisch mit sich selbst als Naturwesen.“

Vom Standpunkt der Anthropologie aus ist das natürlich Blödsinn, denn der Mensch ist ein Kulturwesen per definitionem. Ohne kulturelle Überformung blieben wir alle in unserem Naturzustand, und das wäre für das gesellschaftliche Zusammenleben — freundlich gesagt — nicht zielführend und auch keine gute Idee. „Der Authentizitätsdiskurs sieht davon ab, dass Menschen in der Gesellschaft immer in verschiedenen Rollen agieren, die situationsbedingt wechseln“.

Der aktuelle Hunger nach Authentizität wird von der kapitalistischen Wirtschaftsweise bestens bedient. Denn der Kapitalismus zielt allein auf den Menschen als Konsumenten, „den Menschen, der gerade dann er selbst ist, wenn er das konsumiert, was seinen ‚authentischen‘ Bedürfnissen entspricht“.

Wir sind schnell dabei, die Begriffe miteinander zu vermischen: Authentizität und Autonomie scheinen eng verwandt zu sein, doch im Kapitalismus sieht das Ganze anders aus: „Die kapitalistische Wirtschaftsweise braucht […] weniger das autonome als vielmehr das authentische Subjekt. Das authentische Subjekt findet seine Erfüllung in der Stillung seiner authentischen Bedürfnisse im Konsum.“ Also Konsum statt autonomes Handeln.

Auch Kunst soll heutzutage authentisch sein, nur dann ist es auch ein gutes Kunstwerk. „Kann jedoch Authentizität überhaupt ein Kriterium für Kunst abgeben? Authentisch ist schließlich auch der rücksichtslose Raser, der Vergewaltiger, der besoffene Fußballfan“ oder jeder Andere, der die sozialen Verhaltensregeln missachtet.

Über den positiv aufgeladenen Begriff der Authentizität versucht unsere Gesellschaft, das Unbehagen in der Kultur, welches durch die permanente Uneindeutigkeit der gesellschaftlichen Phänomene ausgelöst wird, zu überwinden. „Nur in einer solchen Gesellschaft kann Authentizität als etwas uneingeschränkt Positives empfunden werden.“

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Identität. Sie ist sozusagen das kollektive Pendant zur individuellen Forderung nach Authentizität. Die Idee der Existenz einer einzig wahren Natur des Kollektivs kommt in dem Begriff der Identität zum Ausdruck. Neurechte Strömungen wie die „Identitäre Bewegung“ nehmen diese Idee auf und internationalisieren auf diesem Weg einen „völkischen Nationalismus und Kulturrassismus“.

In vielen Punkten verfolgt die Neue Rechte ein Gedankengut, das sich auf die Rassentheorie von Ludwig Ferdinand Clauß bezieht. „Als Geisteswissenschaftler wollte Clauß […] mittels der von ihm entwickelten Methode des ‚mimischen Miterlebens‘ oder ‚Mitlebens‘ […] [die] rassetypischen Seelenzustände [der Völker] erkunden“.

Clauß sprach nicht von höher- oder minderwertigen Rassen, war aber der festen Überzeugung, dass jede Rasse sich am besten nur in ihrem eigenen Umfeld und möglichst ohne äußere Einflüsse entwickeln könne: „Rasse ist Gestalt, und jede Gestalt ist, was sie ist, durch ihren Umriß, ihre Grenze.“ Mit anderen Worten galt es, das deutsche Wesen und auch alle anderen Nationalkulturen und Rassen „rein“ zu halten, indem man möglichst alle fremden Einflüsse eliminiert.

Diese Idee, dass sich Menschen einerseits sinnvoll in Rassen einteilen lassen und andererseits ihre Kultur nur dann am besten entfalten können, wenn sie „untereinander bleiben, gewinnt zunehmend wieder Anhänger, nicht nur in der Identitären Bewegung“. Bringt man nun beide Begriffe zusammen (Authentizität und Identität), so entsteht eine verhängnisvolle Wechselwirkung, die im neurechten Spektrum großen Anklang findet. Thomas Bauer weiter:

„Das Kollektiv wiederum erkennt in jenen authentischen Merkmalen, die es von anderen Kollektiven unterscheidet, seine eigene Identität, die bewahrt werden muss und auf keinen Fall durch Vermischung oder Entgrenzung beschädigt werden darf.“ Wir begegnen hier einem radikal segregativen Gesellschaftsmodell und einer „Strategie der Entambiguisierung“, die Thomas Bauer „Kästchenbildung“ nennt. Jede Kultur und jede Rasse (oder Nationalität) kann sich am besten in ihrem eigenen Kästchen entfalten, ohne dass sie durch Fremdes (aller Art) gestört wird. Dies ist rassistische und nationalistische Xenophobie par excellence.

Auch Politikverdrossenheit und die Abwendung von der aktiven Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen sind für Bauer nur weitere Indizien einer „Ambiguitätsverweigerung durch Gleichgültigkeit“. Wenn heutzutage von Politikern verlangt wird, sie mögen doch bitte möglichst „authentisch“ handeln, so widerspricht dies dem Wesen der Politik schlechthin. Politische Entscheidungsfindungen benötigen einen geschützten kulturellen Rahmen sowie eine gewisse Ambiguitätstoleranz aller Beteiligten. Wie hingegen ein „authentischer“ Politiker in einem solchen Kontext agiert, sehen wir regelmäßig beim amtierenden US-Präsidenten Donald Trump.

Der Autor ruft uns alle zu mehr Ambiguitätstoleranz auf. Nur mit einem erneuten gesellschaftlichen Paradigmenwechsel — weg von dem Authentizitäts- und Identitätswahn und hin zu einem Aushalten von Polyvalenzen aller Art, gekoppelt mit einer breiten Bereitschaft zum politischen Diskurs sowie zu einer engagierten Auseinandersetzung mit den Widersprüchen unserer Welt — kann es gelingen, die unheilvolle Entwicklung der vergangenen Jahre zu drehen. Noch ist es nicht zu spät. Aber wir sollten uns nicht mehr allzu lange Zeit lassen. Denn die populistischen „Vereindeutiger“ sind längst dabei, unsere Welt in ihrem Sinne zu verändern.

 

 

Autor: Thomas Bauer
Titel: „Die Vereindeutigung der Welt — Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“
Taschenbuch: 104 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag
ISBN-10: 315019492X
ISBN-13: 978-3150194928

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