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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Richard David Precht: “Jäger, Hirten, Kritiker“

Am: | Mai 28, 2018

So kann es nicht weitergehen. Oder anders ausgedrückt: Wenn es so weitergeht, wie es im Moment weitergeht, geht es nicht gut weiter. Es wird böse enden. — Dies ist, sehr verkürzt, der Generalbass dieses neuen Meisterstücks von Richard David Precht.

Jäger, Hirten, Kritiker liest sich ein wenig wie die Niederschrift einer Folge der Fernseh-Sendereihe Precht. Es ist derselbe Sound, dieselbe kluge Rede und dasselbe leidenschaftliche Engagement, welches Prechts Beiträge zur Politik und Gesellschaft der Gegenwart immer wieder so bemerkenswert und diskussionswürdig machen.

Der Buchtitel Jäger, Hirten, Kritiker geht zurück auf eine Textpassage aus der Deutschen Ideologie, in welcher Karl Marx und Friedrich Engels ihre Utopie einer postkapitalistischen Gesellschaft entwarfen, in welcher der von der Knechtschaft der Lohnarbeit befreite Mensch zukünftig seinen eigenen Neigungen nachgeht und frei ist, eben „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“

2018 ist Marx-Jahr und es erscheinen eine Vielzahl von schlauen Beiträgen, die alle mehr oder weniger bedeutungsschwer versichern, wie bedeutungsvoll die Gesellschaftstheorien von Marx und Engels auch heute noch und wieder sind. Richard David Precht schließt sich dieser Deutung zumindest teilweise an, doch für ihn ist etwas Anderes viel entscheidender, und um dieses Thema dreht sich das ganze Buch: Es ist die Suche nach Antworten auf die Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft.

Die „Zukunft“ unserer Gesellschaftsordnung sieht sich gleich von mehreren Entwicklungen bedroht, die Digitalisierung der Arbeitswelt (Industrie 4.0) ist eine von ihnen. Sie wird in naher Zukunft die Bedeutung und den Wert der Arbeit radikal verändern. Allzu gern möchten Politiker und Bürger die Augen verschließen vor einer technologischen Tatsache, die sich bereits in ersten Ansätzen in der Industrie etabliert hat und mit voranschreitender technischer Entwicklung ein Ausmaß annehmen wird, dessen soziale Auswirkungen sich viele heute noch nicht vorstellen mögen.

Doch wie immer in solchen Fällen hilft die Devise „Augen zu“ herzlich wenig. Die normative Kraft des Faktischen wird in Kürze zur Auflösung traditioneller Berufsfelder, zu massenhafter Freisetzung von Arbeitskräften und am Ende zum Verschwinden der Arbeit in vielen Bereichen führen. Mit dem millionenfachen Verlust von Arbeitsplätzen wird auch das klassische Rentenmodell an sein Ende kommen und ganz automatisch zu einer grundlegend neuen Ausrichtung der sozialen Absicherung führen müssen.

Wir leben in einer globalisierten Welt und werden uns diesen Entwicklungen einer immer umfassenderen Digitalisierung nicht entziehen können. Aber wir können versuchen, diese Entwicklungen zu steuern und ihre negativen Auswirkungen durch die Schaffung entsprechender politischer Instrumente abzufedern oder sie sogar in einen Vorteil für alle zu verwandeln.

In seinem Buch diskutiert Precht das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) und viele weitere Fragen, die sich angesichts des bevorstehenden strukturellen Wandels unserer Gesellschaft und unserer Lebens- und Arbeitswelt stellen. Weder das konservative Festhalten an dem Status Quo noch die retrotopische Sehnsucht nach einer heileren Welt im Gestern werden uns in der aktuellen Situation weiterhelfen. Ebenso sind dystopische Katastrophen-Szenarien wenig hilfreich. Alles, was wir tun können, ist, den Tatsachen möglichst angstfrei ins Auge zu blicken und die „Krise als Chance“ zu erkennen.

Der Kapitalismus kannibalisiert sich nicht selbst. Marx und Engels hatten die Selbstüberwindung des kapitalistischen Systems vorausgesagt und meinten, er würde an seinem eigenen Erfolg ersticken. Diese Prognose hat sich als falsch herausgestellt. Selbst der überhitzte Hyper- und Finanzkapitalismus scheint nach jedem Crash immer wieder auf die Füße zu fallen. Auch die Digitale Revolution wird nicht zu seiner Überwindung führen.

Allerdings werden die globalen Folgen des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz, Industrie 4.0 und robotergesteuerter Produktion immens sein. Die Gefahr großer sozialer Verwerfungen und krisenhafter Zusammenbrüche der alten Sozialsysteme aufgrund der technologischen Entwicklungen ist in vielen Teilen der Welt leider mehr als wahrscheinlich. Umso wichtiger ist es, sich schnellstens Gedanken über eine gestaltbare und wünschenswerte Zukunft zu machen und eine positive Utopie für unsere Gesellschaft zu entwickeln!

Prechts Entwurf einer solchen Utopie für unsere Gesellschaft basiert (wie in all seinen Büchern) auf einer umfassenden und intensiven Recherche, deren Breite und Tiefe beeindruckend ist. Beeindruckend ist auch die Sprachgewalt, mit der er diese Utopie entwickelt.

An manchen Stellen im Buch liest sich das allerdings auch fast ein wenig zu emphatisch und wortgewaltig, was nicht zuletzt an der Leidenschaft liegen mag, welche der Autor für sein Thema empfindet. Und schließlich heiligt hier auch der Zweck die Mittel: Zweifellos, unsere Zukunft geht uns alle an und sie sollte uns allen wichtig sein! Precht will mit seinem Buch nicht unterhalten, sondern wachrütteln und eine längst überfällige, breite gesellschaftliche und politische Debatte initiieren.

Jäger, Hirten, Kritiker ist ein wichtiger Beitrag — ja, mehr noch: ein Grundlagentext — zu einer dringend anstehenden Grundsatzdiskussion über die Zukunft in unserem Lande und in Europa. Der Zusatz „und in Europa“ ist bedingt durch die engen europäischen Verflechtungen, doch gerade diese stellen angesichts des europaweit zunehmenden Einflusses von nationalistischen und populistischen Kräften eine schnelle Umsetzung positiv-utopischer Ziele in konkrete politische und wirtschaftliche Maßnahmen infrage. Gleichwohl sollten wir uns davon nicht abhalten lassen, eine positive Utopie für unsere Gesellschaft zu entwickeln!

Wie wollen wir leben? Wie gehen wir mit dem Verschwinden der Arbeit um? Wie finanzieren wir unsere Sozialsysteme und wahren den sozialen Frieden? — Dies sind nur einige der vielen wichtigen Fragen, die in diesem mitreißend geschriebenen und zum Handeln auffordernden Buch gestellt (und zum Teil auch beantwortet) werden. Der „neue Precht“ ist nicht nur lesenswert, sondern könnte als Ausgangspunkt für eine breite gesellschaftliche Diskussion dienen über die Zukunft unserer Welt sowie über den Umgang mit uns selbst und den Anderen.

 

 

Autor: Richard David Precht
Titel: “Jäger, Hirten, Kritiker“
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442315018
ISBN-13: 978-3442315017

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