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Lothar Semmel (Hg.): „Willy Pragher — Weltstadt am Abgrund — Berlin in Fotografien 1926-1939“

Am: | Juni 26, 2023

Willy Pragher war ein Fotograf, der in den späten 1920er Jahren und während des Dritten Reiches in Berlin eine bedeutende Rolle spielte. Sein Werk als Stadtbildfotograf fängt nicht nur die architektonische Schönheit der Stadt ein, sondern spiegelt auch die sozialen und politischen Veränderungen dieser Zeit wider.

Bereits früh entdeckte der 1908 geborene Pragher seine Leidenschaft für die Fotografie. Nach seiner Ausbildung an der Reimann-Schule, einer der renommiertesten Kunst- und Kunstgewerbeschulen, arbeitete er ab 1932 als freiberuflicher Fotograf und baute sich mit einem eigenen Bilderdienst schnell zahlreiche Kontakte in der florierenden Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft auf. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten vollzog sich eine Gleichschaltung und Ausdünnung der Presselandschaft. Pragher gelang es dennoch, seine Fotografien des Berliner Alltagslebens auch unter den neuen politischen Verhältnissen zu verkaufen, ohne sich den neuen Machthabern anzubiedern.

Willy Pragher gehörte nicht unbedingt in die erste Reihe der bekannten Pressefotografen jener Zeit, doch wie sich schon beim flüchtigen Durchblättern dieses umfangreichen Bildbandes feststellen lässt, zu unrecht. Sein privates Fotoarchiv gehört mit etwa 6.000 Glasnegativen, 250.000 Filmnegativen, 27.000 Diapositiven und 110.000 Papierabzügen zu den umfangreichsten und bekanntesten Künstlernachlässen in Deutschland. Nach seinem Tod 1992 übernahm das Staatsarchiv Freiburg diesen wichtigen Nachlass und hat sich seitdem mit der konservatorischen Sicherung — und Digitalisierung — dieser Bestände befasst.

Praghers Bildarchiv ist eine geradezu unerschöpfliche Quelle — nicht nur für die historische Bildrecherche der Berliner Vergangenheit — und dürfte für die Forschung noch eine Menge von Überraschungen und Entdeckungen bereithalten.

Der Vorsitzende des Vereins für die Geschichte Berlins, Lothar Semmel, hat sich intensiv mit dem Nachlass Willy Praghers befasst und für diesen Bildband eine wirklich beeindruckende Auswahl an Bildmotiven zusammengestellt, die nicht nur von der künstlerischen Begabung Praghers Zeugnis ablegen, sondern auch erfrischend neue und teilweise nie gesehene Einblicke in das Berliner Alltagsleben der 1930er Jahre gewähren. Doch die Geschichte beginnt etwas früher; der Bildband zeigt auch noch das Berlin der späten 1920er Jahre, als

die Stadt noch ein Schmelztiegel des Fortschritts und der Modernität war. Berlin pulsierte vor Energie und Kreativität, und Pragher war mittendrin. Er widmete sich dem Dokumentieren der Veränderungen im Stadtbild und erforschte die urbanen Landschaften, die das Leben der Menschen prägten. Seine Bilder zeigen die geschäftigen Straßen, die beeindruckende Architektur und das pulsierende Nachtleben der Metropole.

Praghers Arbeiten aus dieser Zeit zeichnen sich durch ihren einzigartigen Stil aus. Er experimentierte mit Kompositionen, Perspektiven und Licht, um seine Bilder lebendig und dynamisch zu gestalten. Seine Aufnahmen von belebten Plätzen wie dem Alexanderplatz oder dem Kurfürstendamm vermitteln ein Gefühl der Bewegung und des Aufbruchs. Gleichzeitig gelang es ihm, intime Momente einzufangen, die das Alltagsleben der Berliner widerspiegeln.

Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 änderte sich das Leben und die Arbeit von Willy Pragher drastisch. Das kulturelle Klima in Deutschland veränderte sich, und die Kunst wurde zunehmend von der nationalsozialistischen Propaganda kontrolliert. Pragher passte sich den neuen Verhältnissen nur so weit an, wie es die allgegenwärtige Zensur erforderte; sein künstlerischer Stil und sein freier Blick wurden davon nicht beeinflusst. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Pragher seine Arbeit als Mittel des Widerstands benutzt hätte, doch er achtete darauf, sich nicht für die Ziele des NS-Regimes instrumentalisieren zu lassen.

Als Fotograf wurde Pragher zu einem Chronisten der dunklen Zeiten. Er dokumentierte die teilweise radikalen Umbrüche der Stadtlandschaft im Zuge der gigantomanischen Bauvorhaben zur Umgestaltung Berlins zu Germania. Sein Werk als Stadtbildfotograf in Berlin während des Dritten Reiches wurde zu einem wichtigen Zeugnis für die Geschichte dieser dunklen Ära. Mit seinen Fotografien, die in diesem prächtigen Bildband versammelt sind, dürfen wir uns auf die imaginäre Reise in jene dunklen Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg begeben und auf diesem Weg versuchen, uns einen Zugang zu dieser so vertraut erscheinenden und doch so fremden Alltagswelt zu erschließen.

Wenn wir uns also auf die fotografischen Quellen aus jener Zeit der späten 1920er und 1930er Jahre beziehen, die uns jetzt mit den Fotografien von Willy Pragher vorliegen, so müssen wir uns immer der Tatsache bewusst sein, dass wir es mit subjektiven Abbildungen der Wirklichkeit zu tun haben. Die sowohl räumlichen als auch die zeitlichen Rahmungen der Berliner Straßenszenen geben immer nur kurze Augenblicke der Vergangenheit wieder, und es bleibt unsere Aufgabe, diese Streiflichter des Vergangenen in unseren Köpfen zu ordnen und zu ergänzen, sie mit unseren Vorstellungen von der Vergangenheit in Einklang zu bringen und uns schließlich auf diesem Wege einen Zugang zur Vergangenheit zu erarbeiten.

Mit fast 300 großformatigen Fotos, deren Großteil bislang unveröffentlicht waren, ermöglicht der Bebraverlag jetzt den Zugang zu einem hochinteressanten Stück Zeitgeschichte und zu einem künstlerischen Werk, das jetzt hoffentlich eine längst fällige öffentliche Aufmerksamkeit und Würdigung erfährt.

Autor: Lothar Semmel (Hg.)

Titel: „Willy Pragher — Weltstadt am Abgrund — Berlin in Fotografien 1926-1939“

Herausgeber ‏ : ‎ BeBra Verlag

Gebundene Ausgabe: ‎304 Seiten

ISBN-10: ‏ : 381480273X

ISBN-13: ‎978-3814802732

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