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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Thomas Blubacher: „Ich jammere nicht, ich schimpfe — Ruth Hellberg. Ein Jahrhundert Theater“

Am: | April 16, 2018

Was hat diese Frau alles erlebt! Die Lebensgeschichte von Ruth Hellberg klingt wie ein wilder Ritt durch die Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. In der Tat finden sich nur wenige wichtige Namen in dieser Branche, mit denen die Hellberg nicht gespielt oder die sie nicht gekannt hat.

„Mein Leben bestand ja nur aus Theater und gar nichts anderem. Ich habe eigentlich kein Privatleben geführt, das hing immer mit dem Theater zusammen, das Theater kam doch immer an erster Stelle.“ So beschreibt sich Ruth Hellberg selbst. Schon als Kind war sie mit dem Theater verbandelt, wuchs in seinem Umfeld auf und empfand nichts selbstverständlicher, als überall mit Theaterleuten zu tun zu haben.

Fast acht Jahrzehnte hat Ruth Hellberg auf der Bühne gestanden und für den Film gearbeitet. 1906 geboren, hat sie noch die fürstlichen Hoftheater der Kaiserzeit miterlebt, die Stummfilmzeit der Weimarer Republik, die Anfänge der Synchronisation in den 1930er Jahren und des Fernsehspiels in den 1950er Jahren.

„Sie hat unter Regisseuren von Max Reinhardt und Leopold Jessner bis Friedrich Dürrenmatt und Volker Schlöndorff gespielt, mit Kollegen von Alexander Moissi, Alexander Granach und Gustaf Gründgens über Therese Giehse, Heinz Rühmann und Zarah Leander bis Götz George und Barbara Auer.“

Doch auch in ihrem Privatleben mangelte es nicht gerade an Dramatik, „denkt man an den Lebensgefährten der Großmutter, der sie als Kind zu erschlagen drohte und in die Irrenanstalt eingeliefert werden musste, an den tragischen Tod ihrer vierjährigen Tochter, ihre Psychiatrieaufenthalte, Selbstmordversuche und Fehlgeburten, Affären und Beziehungsabbrüche.“

Wie man so schön sagt, kannte Ruth Hellberg Hinz und Kunz der Branche. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war sie mittendrin und eine zentrale Persönlichkeit der deutschen Medienkultur. „Sie war mit Ernst Toller befreundet, mit Bertolt Brecht und Klaus Mann, war unglücklich in Frank Wedekinds Tochter Pamela verliebt und zum Spaß mit dem offen schwulen Kabarettisten Paul O´Montis verlobt, bekam uneheliche Kinder vom späteren Hollywoodstar Oskar Homolka und von Fritz H. Landshoff, der der bedeutendste Exilverleger werden sollte, war die Geliebte des Münchner Intendanten Otto Falckenberg und die Ehefrau des Ufa-Chefs Wolfgang Liebeneiner.“

Man mag mir diese lange zitierte Passage verzeihen, jedoch komprimierter und konturierter als Thomas Blubacher kann man dieses bunte Leben der Ruth Hellberg einfach nicht beschreiben! Wobei wir gleich bei einem wichtigen Punkt angelangt sind: Thomas Blubacher ist im Zusammenhang mit seinen Biografien bereits mehrfach positiv aufgefallen; so hat er in wundervoll geschriebenen Büchern das Leben und Schaffen von Gustaf Gründgens, Oskar Wälterlin, Ruth Landshoff-Yorck und anderen beschrieben.

Thomas Blubacher, selbst Theatermensch mit einer unübersehbar starken Affinität zur Schauspielkunst, ist ein begnadeter Erzähler, der nur so vor Begeisterung für seinen Forschungsgegenstand sprüht. Man merkt dem Text an, mit welcher Kraft und frischem Schwung hier einer schreibt, der so tief, tief, tief in seine Materie eingestiegen ist, dass er über eine Unmenge an Quellenmaterial verfügt.

Eine gute Vorstellung davon, wie intensiv die Recherche des Autors gewesen sein muss, bekommt auch, wenn man dieses Buch zum ersten Mal in die Hand nimmt: Es ist knapp 400 Seiten dick; doch der Anhang ist nicht wie bei den meisten anderen Biografien nur etwa 20-30 Seiten lang, sondern umfasst allein 143 Seiten! Mehr als ein Drittel des Gesamtumfangs allein für den Anhang — das ist selbst für Publikationen des Wallstein-Verlags ungewöhnlich viel…

Immer wieder scheint der Autor tiefe Tauchgänge in den Archiven unternommen zu haben, und von jedem Tauchgang brachte er neues Material ans Tageslicht und legte es zu den anderen Fundstücken in seiner Sammlung. Andere Schriftsteller wäre aufgrund der Fülle an Rohmaterial erschlagen oder es hätte ihnen die Sprache verschlagen. Thomas Blubacher hingegen scheint diesen Quellenreichtum zu genießen, ja, ihn zu brauchen! Nur so kann er wirklich aus dem Vollen schöpfen und ein buntes und bilderreiches Panorama entwerfen, das in der biografischen Literatur seinesgleichen sucht.

Doch diese neue Biografie über Ruth Hellberg hat noch eine ganz eigene Geschichte: Ruth Hellberg hatte sich zeitlebens mehrfach dem Ansinnen verweigert, ihre Memoiren zu Papier zu bringen. Doch im hohen Alter hatte sie, nachts im Bett liegend, ihr Leben auf unzähligen Tonkassetten geschildert — nicht für die Öffentlichkeit, sondern für ihren Sohn Andreas.

Andreas Hellberg hat diese Biografie initiiert; er hatte Thomas Blubacher angesprochen und ihm vorgeschlagen, mithilfe dieser Tonbänder das Leben seiner Mutter nachzuerzählen. Neben allen anderen Quellen, wie Briefen und Notizen, Gesprächen mit Angehörigen, Freunden und Kollegen, waren es vor allem jene besprochenen Tonbänder, die den Kern dieser Biografie bilden.

Es ist die unzensierte und ungefilterte Erzählung ihres eigenen Lebens, die uns Ruth Hellberg auf diesen Bändern hinterlassen hat. Gerade durch diese Erzählungen, kleinen Anekdoten und interessanten Details entstand hier ein unglaublich dichter und lebendiger Text, der spannend zu lesen ist und in dem man einen unverstellten Einblick in die deutsche Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts bekommt. Ein wundervolles, unterhaltsames und zugleich lehrreiches Buch über eine Ausnahme-Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts! Oder mit anderen Worten: ganz großes Theater!

 

 

Autor: Thomas Blubacher
Titel: „Ich jammere nicht, ich schimpfe — Ruth Hellberg. Ein Jahrhundert Theater“
Gebundene Ausgabe: 396 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835332546
ISBN-13: 978-3835332546

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