Tilman Allert: „Gruß aus der Küche — Soziologie der kleinen Dinge“
Am: | November 7, 2017
Es sind die kleinen und unscheinbaren Dinge des Alltags, die es dem Soziologen Tilman Allert angetan haben. Wäre man böswillig, so könnte man ihn also einen „Alltags-Soziologen“ nennen, eben weil er seine Aufmerksamkeit solch unscheinbaren und ephemeren Alltagsphänomenen wie dem Jubel, der Blockschokolade, dem Thermomix oder High Heels zuwendet. Doch ist nicht vielleicht das der Königsweg zur soziologischen Erkenntnis?
Die zunächst etwas abfällig klingende Bezeichnung „Alltags-Soziologe“ ist eigentlich überhaupt keine Beleidigung; ganz im Gegenteil sei sie hier als eine Art „Ritterschlag“ verstanden: Denn dieses Interesse an Alltagsphänomenen hat in der Geschichte der Soziologie eine lange Tradition. Zuerst war es der Berliner Soziologe und Kulturphilosoph Georg Simmel, der sich mit solch scheinbar seltsamen Dingen wie dem Jodeln, dem Henkel, der Schwere oder auch dem Streit beschäftigte. Simmel war fest davon überzeugt, dass man von jedem Punkt solch einer Untersuchung aus „ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken lässt, dass alle banalsten Äußerlichkeiten schließlich durch Richtungslinien mit den letzten Entscheidungen über den Sinn und Stil des Lebens verbunden sind.“ Mit anderen Worten: Der Weg zur soziologischen Erkenntnis führt nicht selten über die Untersuchung der unscheinbarsten Phänomene.
Auch Siegfried Kracauer hat sich vornehmlich mit Oberflächen-Phänomenen beschäftigt, um daraus Schlüsse zu ziehen über den Zustand und den „Ort einer Epoche“ im Geschichtsprozess. Wir sehen also: Die Beschäftigung mit banalen Dingen ist alles Andere als banal, sondern kann sehr wohl zu tiefschürfenden Meditationen über unseren gesellschaftlichen Status quo führen. Vorausgesetzt, ein heller Kopf beschäftigt sich mit diesen Dingen. Diese Voraussetzung ist bei Tilman Allert zweifellos gegeben.
Tilman Allert ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt sowie Gastdozent an mehreren internationalen Universitäten. Sein erster Band mit soziologischen Reflexionen („Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge“) erschien vor einigen Jahren. Nun ist mit dem „Gruß aus der Küche“ ein neuer Sammelband mit Essays erschienen.
Die hier versammelten vierzig soziologischen Betrachtungen bieten nicht nur einen dauerhaften Lesespaß, sondern können auch als eine Art Arbeitsbuch benutzt werden, mit dessen Hilfe man den eigenen „soziologischen Blick“ schärfen kann. Insofern bietet sich die Lektüre natürlich in allererster Linie den Studierenden der Soziologie an. Doch Allerts soziologischen Betrachtungen sind darüber hinaus auch eine Analyse jener feinsten Ausschläge eines gesellschaftlichen Seismographen, justiert auf die fast nicht wahrnehmbaren, leisesten Ausschläge auf der Oberfläche unserer Kultur.
Mit diesem Buch können sie auf vergnügliche und unterhaltsame Weise lernen, dass Soziologie viel mehr ist, als nur die statistische Verwaltung von erhobenen Daten, quantitative Sozialforschung genannt. Soziologie ist auch viel mehr als nur die theoretische Analyse von Gesellschafts- und Organisationsstrukturen. Soziologie, wie sie der Autor versteht, ist vor allem erst einmal eine bestimmte Art, die Umwelt wahrzunehmen. Soziologie als Wissenschaft dient in erster Linie der Erkenntnis. Erst in zweiter Linie sollen Theoriemodelle mit Hilfe qualitativer und quantitativen Verfahren bestätigt bzw. widerlegt werden.
Doch Allerts „Soziologie der kleinen Dinge“ ist auch für den Leser außerhalb der Universität eine anregende und die Sinne schärfende Lektüre. Nicht zuletzt aufgrund der stilistischen Brillanz der hier versammelten Essays wird für einen langen und langanhaltenden Lesespaß gesorgt. Wobei man sich bewusst Zeit nehmen und nicht versuchen sollte, das buch schnell und in einem Rutsch durchzulesen! Diese Texte sind wie ein guter und teurer Wein: Den kippt man ja auch nicht schnell runter, um möglichst bald zum nächsten Glas zu kommen…
Gönnen Sie sich also diese unterhaltsame und lehrreiche Lektüre von Tilman Allerts „Gruß aus der Küche“! Lernen Sie, unsere Welt durch die soziologische Brille zu betrachten! Dann wird Ihnen auch beim nächsten Gruß aus der Küche ein Licht aufgehen, und Sie werden verstehen, dass dieser Gruß zur kommunikativen Rahmung eines Restaurantbesuchs gehört wie der Wunsch zu einem „Guten Appetit“.
Autor: Tilman Allert
Titel: „Gruß aus der Küche — Soziologie der kleinen Dinge“
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: S. FISCHER
ISBN-10: 310397227X
ISBN-13: 978-3103972276
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