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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Thomas Suddendorf: „Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht“

Am: | Oktober 18, 2014

Die Frage ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? – Die naheliegendste Antwort wäre natürlich: der Mensch! Nur der Mensch ist in der Lage, sich vom Tier (und dem eigenen Tier-Sein) zu distanzieren. Tier tun es nicht, oder zumindest sehen sie keine Notwendigkeit für eine Distanzierung.

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Das wissen wir nicht erst seit dem Anthropologen Arnold Gehlen, sondern aus eigener Erfahrung. Kommt ein Mensch auf die Welt, so ist er das hilfloseste Würmchen auf der Welt. Aber wird der Mensch älter, so macht er den Unterschied.

Was also ist der Unterschied, wenn es ihn gibt? Die Philosophen machen sich seit über 2000 Jahren darüber Gedanken. Der Urtrieb des Menschen, sich zu besondern, sich also für etwas Besseres zu halten bzw. zu machen, lässt sich einfach nicht wegdiskutieren. Wir haben dieses Bedürfnis nach einer Sonderstellung, doch was sind die Alleinstellungsmerkmale des Menschen?

Lange Zeit war man der Ansicht, der Mensch (und nur er!) habe eine Seele und würde sich allein dadurch von den seelenlosen Tieren abheben. Dann versuchte man das Menschsein am Bewusstsein festzumachen, dann an der Sprache.

Hübsch und plausibel klingen nach wie vor die Definitionen der „Person“, wie sie von John Locke oder Immanuel Kant formuliert wurden: Nach John Locke ist eine Person (also ein Mensch) „ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann, als das selbe denkende Seiende in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten“. Und nach Kant besitzt der Mensch das Vermögen, sich seiner selbst als identisches Ich in verschiedenen Zuständen bewusst zu sein. Vernünftige Wesen werden „Personen“ genannt, weil sie im Gegensatz zu Sachen und unvernünftigen Wesen (Tieren), eine Selbstzwecklichkeit besitzen, d.h. schon „Zweck an sich selbst“ sind.

Für Kant ist also vor allem die Vernunftfähigkeit des Menschen sein Alleinstellungsmerkmal. Tiere verhalten sich, während Menschen handeln. Menschen können sich ihrer Vernunft bedienen, um Situationen in Gedanken durchzuspielen, Pläne zu schmieden und „vernünftig“ zu handeln – und nicht nur auf situative Umweltreize zu reagieren.

Diese über 200 Jahre alte Definition klingt immer noch sehr plausibel, und der deutsche Entwicklungspsychologe Thomas Suddendorf kommt in seinem Buch „Der Unterschied“ in leicht abgewandelter Form zum selben Ergebnis:

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht nach Suddendorf in folgenden Merkmalen: „unsere unbegrenzte Fähigkeit zur Vorstellung und Reflexion über verschiedene Situationen sowie unser tiefes Bedürfnis, uns über die von unserem Geist geschaffenen Szenarien mit anderen auszutauschen“.

Diese zwei Attribute hätten in der Evolution die Kluft zwischen uns und unseren nächsten tierischen Verwandten, den Großen Menschenaffen, immer weiter vergrößert. Sie allein haben „die unter Tieren übliche Kommunikation in ein System offener Sprache verwandelt, das Gedächtnis in die Fähigkeit zu mentalen Zeitreisen, die soziale Wahrnehmung in eine Theory of Mind, Problemlösungsverhalten in abstraktes Denken, soziale Traditionen in eine kumulative Kultur und Empathie in Moralität“.

Wir Menschen sind in der Lage, uns mit Hilfe der Sprache über Dinge zu unterhalten, die wir nicht im gleichen Augenblick sehen. Wir können uns über Michelangelo unterhalten oder Pläne für den nächsten Sommerurlaub schmieden; wir können unser eigenes Verhalten reflektieren oder über das Für und Wider von Tierversuchen diskutieren. Und wir sind von dem fundamentalen Bedürfnis getrieben, unsere Gedanken mit anderen Menschen zu teilen.

All dies unterscheidet uns qualitativ von den Tieren. Wir besitzen die Fähigkeit zur Reflexion, eine offene Sprache, können uns denken, was andere denken (auch wenn wir dabei nicht immer richtig liegen), verwandeln und „kultivieren“ die Natur und haben moralische Ansprüche an die Anderen und an uns selbst.

Thomas Suddendorf stammt aus dem Münsterland, hat jedoch an der University of Auckland promoviert und lebt seitdem mit seiner Familie in Australien. Er lehrt an der renommierten University of Queensland in Brisbane, und sein Spezialgebiet ist die Evolution des menschlichen Geistes. Suddendorf ist ein international anerkannter und vielbeschäftigter Wissenschaftler; er ist mit der Veterinärforscherin Christine Dudgeon liiert.

In seinem Buch „Der Unterschied“ geht Suddendorf der Frage nach, ob die gängige Theorie einer qualitativen Distinktion des Menschen vom Tierreich noch Bestand hat oder von den jüngsten Erkenntnissen der Wissenschaft widerlegt werden konnte.

So versammelt Suddendorf Buch den aktuellen Wissenstand der Natur- und Humanwissenschaften, der Psychologie, Biologie, Neurowissenschaften, Philosophie und Anthropologie. Was zunächst nach vielen Zahlen und schwer zu vermittelnden wissenschaftlichen Inhalten klingt, entpuppt sich bei der Lektüre dieses Buches als durchaus vorhandener und spannender Informationshintergrund, vor dem der Autor in leicht verständlicher und stilistisch sehr ansprechender Form seine Argumentation entrollt und anhand von konkreten empirischen Ergebnissen aus den verschiedenen Forschungsfeldern untermauert.

Um es also klar zu sagen: „Der Unterschied“ ist ein faszinierendes Hybrid – weder ein rein populärwissenschaftlicher Buchtitel der Marke „faction“, noch ein rein wissenschaftlicher Titel. „Der Unterschied“ kann von beiden Zielgruppen – den interessierten Laien wie den eher wissenschaftlich Motivierten – gelesen werden. Für die wissenschaftliche Vertiefung der ausgerollten Materie steht ein sehr umfangreicher Anhang (80 Seiten!) mit zahlreichen Lesehinweisen zur vertiefenden Lektüre zur Verfügung.

Gänzlich undeutsch und im ansprechenden und hemdsärmeligen Stil angloamerikanischer Wissenschaftspublikationen geschrieben, nimmt uns „Der Unterschied“ mit auf eine Reise zu den aktuellen Versuchsanordnungen der Kognitionswissenschaften und den daraus folgenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Suddendorf verbindet dies mit einer guten Portion „personal touch“, wenn er immer wieder auf seine eigenen Kinder beim Spracherwerb oder während ihrer frühen Kommunikationsversuche beobachtet.

Überhaupt nimmt die Entwicklungspsychologie in diesem Buch als Quelle einer komparatistischen Methode eine Schlüsselstellung ein. Was wir an der Entwicklung von Kindern beobachten können, findet sich in unterschiedlicher Ausprägung auch bei Tieren wieder.

Besonders spannend liest sich aber auch der Abschnitt „Die wahre Mittelerde“, in der Suddendorf zunächst erklärt, wie sich mittels der modernen DNA-Analyse die Wanderungen unserer Urahnen rekonstruieren lassen. Letztlich stammen wir aus Afrika, das ist bereits hinlänglich bekannt.

Aber heute ist klar, dass unsere Vorfahren nicht die einzigen Menschen waren – oder genauer gesagt: Homo sapiens stieß im Laufe seiner Geschichte und seiner Wanderungen auch immer wieder auf nähere oder fernere „Verwandte“ wie den Australopithecus africanus oder den Neandertaler. Archäologen können zahlreiche Funde vorlegen, die eine Vermischung jener Spezies nachweisen, aber die große Frage ist, warum gerade der Homo sapiens als einzige menschliche Spezies überlebte.

Die Antwort, die Suddendorf in seinem Buch findet, ist ebenso naheliegend wie nachvollziehbar: Wenn Menschen unterschiedlicher Spezies aufeinander stießen, so entstand ein gegenseitiger Anspruch auf das besetzte Territorium und seine Ressourcen. Waren diese ausreichend oder gar im Überfluss vorhanden, so war eine friedliche Koexistenz möglich; im Falle knapper Ressourcen kam es jedoch zwangsläufig zu einem Verdrängungskampf, in dem der (körperlich, kriegerisch, technologisch) Schwächere unterlag, vertrieben – oder umgebracht wurde.

Thomas Suddendorfs Buch hilft, den eigenen Horizont zu erweitern und sich die Frage zu stellen, wie diese Kluft zwischen Mensch und den Großen Menschenaffen entstehen konnte – falls man nicht gerade dem kreationistischen Lager angehört und sowieso keine Fragen stellt. Die plausibelste Antwort auf die Frage nach der Lücke ist der Mensch selbst. Sobald unser Zugang zu den lebenswichtigen Ressourcen infrage gestellt wird, gehen wir mit den Anderen nicht gerade zimperlich um. Die einzige Spezies, die sich gemeinsam gegen die eigenen Artgenossen wendet und sie tötet, sind die Schimpansen – unsere nächsten Verwandten im Tierreich.

Der Mensch ist in der Lage, den Planeten und seine Lebensgrundlagen zu zerstören, und wir alle sind gerade kräftig dabei, den Ast auf dem wir sitzen, abzusägen. Es knirscht schon, und selbst ein radikales Umdenken macht den weiteren Verlauf der Geschichte höchst fraglich. Wir haben es weit gebracht. Wir haben Tierarten ausgerottet und machen das auch heute noch. Wir beuten die natürlichen Ressourcen der Erde aus, bis nichts mehr da ist. Wir können diesen Untergang mittlerweile mathematisch recht genau berechnen, doch eine Umkehr, eine Besinnung ist nur bei Wenigen in Sicht. Doch sie werden immer mehr, so dass es doch einen leichten Hoffnungsschimmer gibt.

Diese Hoffnung sieht auch Thomas Suddendorf als berechtigt an. Jede Fähigkeit bringt auch die Pflicht zur Verantwortlichkeit mit sich. Wir Menschen sind heute mehr denn je in der Lage, uns über das Internet in Sekundenschnelle über unsere Erkenntnisse auszutauschen und andere über Gefahren und mögliche Fehlentwicklungen zu informieren. Wir sind demnach in der Lage, unseren falschen Kurs zu korrigieren. – Das sollten wir auch tun. Damit wir nicht die erste Spezies werden, die es geschafft hat, sich selbst auszurotten.

Lesen Sie auch das Interview zum Buch mit Thomas Suddendorf auf der Frankfurter Buchmesse 2014!

Autor: Thomas Suddendorf
Titel: „Der Unterschied. Was den Menschen zum Menschen macht.“
Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Verlag: Berlin Verlag
ISBN-10: 3827010934
ISBN-13: 978-3827010933

 

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