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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Karl-Markus Gauß: „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“

Am: | August 28, 2020

Gibt es so etwas wie Corona-Literatur? Ist die weltweite Pandemie, die uns in diesem Jahr 2020 ereilt, der Auslöser für eine neue literarische Innerlichkeit? Kann es sein, dass wir uns — ähnlich wie ein Gefangener in seiner Zelle — noch stärker als bisher der imaginierenden Kraft der eigenen Fantasie bedienen (müssen), um uns über die eigenen vier Wände und den engsten sozialen Umfeld hinaus zu träumen?

Es gab das Genre der introspektiven Reiseliteratur schon lange, sehr lange, vor Corona. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Bernd Stiegler hatte vor einigen Jahren ein schlaues und spannend zu lesendes Buch über jenen „Reisenden Stillstand — Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum“ geschrieben (erschienen 2010 bei S. Fischer Wissenschaft).

Der bekannte österreichische Autor und Journalist Karl-Markus Gauß lebt in Salzburg und hat nun diese literarische Tradition aufgegriffen und ein ebensolches Buch geschrieben: eine „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“. Das eigentlich Verblüffende an diesem Buch ist jedoch, dass es bereits 2019 geschrieben wurde, also vor über einem Jahr! Doch das Sujet der Reise durch das eigene Zimmer passt so gut in unsere Zeit wie kaum ein anderes …

In Zeiten der Pandemie bleiben wir lieber zuhause, als dass wir uns der Gefahr einer Ansteckung aussetzen. Dieses „Wir“ mag nicht für jede Leserin und jeden Leser gelten, der diese Besprechung liest, doch die meisten von uns sind seit Beginn der Corona-Pandemie und des Lockdowns vorsichtig geworden. Man geht auf Abstand, trägt Maske, und wenn es sich vermeiden lässt, bleibt man größeren und dichteren Menschenansammlungen fern.

Was liegt also näher, wenn man als Essayist und Schriftsteller zum Verweilen in den eigenen vier Wänden gezwungen ist, als darüber zu schreiben, das von außen Auferlegte als eine Chance zu betrachten, als einen Schreibauftrag, ein neues Projekt.

Der Autor schaut sich in seinem Haus um. Ganz genau. Er registriert, analysiert, fantasiert. Erinnerungen und Anekdoten, Realitäten und Banalitäten, Erlebtes und Ersehntes, medial Vermitteltes und der eigenen Erfahrung Entsprungenes vermischen sich, durchdringen sich, bilden eine neue Mélange und werden zu einem fließenden literarischen Text, der den Leser immer weiter hineinzieht.

Diese Reise durch sein Zimmer steckt voller Abenteuer und voller interessanter Fakten, die das Beschriebene sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Dimension dehnen, bis schließlich deutlich wird, dass die scheinbare Beschränkung auf den Raum des eigenen Zimmers ganz bedeutungslos geworden ist.

Karl-Markus Gauß schenkt uns mit seinem neuen Roman (oder ist es doch eher ein Essay?) einen höchst unterhaltsamen und zutiefst berührenden Text, der in seiner vielschichtigen Komplexität zeigt, dass wir in Gedanken auch die ganze Welt bereisen und entdecken können, sobald wir das Füllhorn unserer Fantasie mit dem Schatz unserer Erinnerungen und Assoziationen kurzschließen. Ein spannender und inspirierender Lesegenuss — gerade in diesen ganz besonderen Zeiten!

 

 

Autor: Karl-Markus Gauß
Titel: „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Unionsverlag
ISBN-10: 3293208983
ISBN-13: 978-3293208988

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