Dana Giesecke, Hans-Georg Soeffner, Klaus Wiegandt (Hg.): „Welzers Welt — Störungen im Betriebsablauf“
Am: | August 14, 2018
In diesem Sommer (2018) wird Harald Welzer 60. Ein guter Anlass, Kollegen und Weggefährten um ihre Beiträge zu bitten und sich auf die eine oder andere Art mit „Welzers Welt“ auseinanderzusetzen. Der bekannte Sozialwissenschaftler und Gründer der Stiftung „Futur Zwei“ ist seit vielen Jahren in den Medien präsent. Als streitfreudiger Kämpfer für ein „Selbstdenken“ und Umdenken im Sinne der Nachhaltigkeit fällt er nicht zuletzt durch sein lässiges und unprätentiöses Auftreten auf.
„Welzers Welt ist einerseits gekennzeichnet von ‚Störungen im Betriebslauf‘ […] auf dem Weg in eine zweifelhafte Zukunft. Andererseits ruft Welzer zum Selbstdenken auf, weil Autonomie und Freiheit für ihn die zentralen Leitwerte seiner Vorstellung von Politik und Leben sind.“
Mit seinen beispielhaften Geschichten eines gelingenden Lebens fernab des Mainstreams (oder gar diametral zu ihm) formuliert Welzer immer wieder seinen „Aufruf zu einer paradoxen Lebensführung: zu hedonistischer Askese“.
Das vorliegende Buch versammelt 86 „Störungen im Betriebsablauf, […] aus der Kunst, der Politik, der Wissenschaft, den Medien und aus dem Leben — von Menschen, die Welzer und seiner Welt freundschaftlich verbunden sind.“ Auf diese Weise entsteht ein wahrlich „buntes Mosaik; es komponiert Bilder der Vergangenheit mit Zukunftsszenarien, Privates mit Politischem, und dokumentiert auf seine Weise, dass Welzers Bedeutung im Finden und Suchen dessen liegt, was ‚dazwischen‘ ist, nämlich zwischen den Genres, den Disziplinen, den Gewohnheiten“. — Das schreiben die Herausgeber — Dana Giesecke, Hans-Georg Soeffner und Klaus Wiegandt — in ihrer einleitenden Laudatio über den Jubilar.
Dana Giesecke ist Soziologin und Leiterin von FUTURZWEI, und Hans-Georg Soeffner arbeitet am KWI, dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Klaus Wiegandt ist ehemaliger Manager; mit 60 Jahren kehrte er der Wirtschaft den Rücken, um sich Grundfragen des Lebens sowie großen gesellschaftlichen Herausforderungen auf wissenschaftlicher Basis zu widmen; so gründete er die Stiftung „Forum für Verantwortung“ und setzt sich seitdem für Nachhaltigkeit ein.
Wir befinden uns mitten in einer Krise der Temporalität. „Die Zukunft kann nicht mehr aus der Vergangenheit verstanden werden.“ Harald Welzer geht es — anders als den meisten seiner Soziologen-Kollegen — nicht mehr um die großen Erklärungsversuche und theoretischen Denkmodelle, sondern um eine „empirische Ethik, die eine Form der Praxis und Mobilisierung beinhaltet“.
„Sozialwissenschaftler haben angesichts der neuen Welt einen schweren Stand. Unser Handwerkszeug taugt nicht viel, wenn es darum geht, die heutigen Gefahren zu verstehen.“ Geschweige denn, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, möchte man ergänzen!
Anders bei Harald Welzer: Die Unerklärbarkeit der Welt und das Scheitern an den großen Geschichtsschreibungen nimmt er eher zum Anlass, um Geschichten von Menschen zu erzählen, „die sich eine andere Welt vorstellen und die auch leben“. So ersetzt das Erzählen von Geschichten „die große und allumfassende Theorie der Gesellschaft“.
Genau dies ist das Erfrischende an Welzers Umgang mit der Wirklichkeit und zeichnet Praxisnähe von Welzers Welt aus: „In den von Welzer gesammelten Geschichten wird wörtlich eine Welt vor-gestellt. Wie in Theater oder Kino können wir uns mit den Akteuren identifizieren oder auch nicht.“ Harald Welzer erhebt eben gerade nicht den mahnenden Zeigefinger, sondern überlässt uns die Entscheidung, ob wir den von ihm gesammelten Beispielen folgen wollen oder nicht.
Dabei bleibt er in seinen Publikationen, wie in seinen Vorträgen, immer leicht verständlich und vermeidet, so gut es eben geht, bewusst die Fachsprache der Wissenschaft. „In Welzers Welt ist die Sprache die Sprache der Menschen, die Geschichten erzählen. Es geht nicht darum, sich hinter Sprache zu verstecken“, wie viele Intellektuelle es nur allzu gerne praktizieren, um den Oberlehrer zu geben, sich selbst aber aus der Verantwortung zu ziehen.
„Systemkritik ist nicht nur die bequemste, sondern fatalerweise auch intellektuell anspruchsvollste Ausrede dafür, keine individuelle Verantwortung übernehmen“ zu müssen. Viel lieber sollte man einfach bei sich selbst anfangen und etwas tun.
So hat seinerzeit auch Harald Welzer spätestens mit der Gründung seiner Stiftung FUTURZWEI den entscheidenden Schritt aus dem akademischen Betrieb in ein gesellschaftliches und politisches Handeln vollzogen. FUTURZWEI erzählt auf der Online-Plattform sowie in diversen Formaten sogenannte „Geschichten des Gelingens“ und wendet sich explizit an alle, die „an der sozialen und ökologischen Zivilisierung unseres Lebens“ arbeiten wollen. Als Mitbegründer der „Initiative Offene Gesellschaft“ kämpft Harald Welzer darüber hinaus auch für den Erhalt demokratischer Grundwerte wie Meinungsfreiheit, Toleranz und Diskussionskultur.
Dabei war er zunächst sehr gut im akademischen Betrieb etabliert. „Bevor er [wie seine Kollegen] auch wegschnarchte, entdeckte Welzer für sich das zentrale Problem des 21. Jahrhunderts: dem Klimawandel. Das war nicht nur ein neues Thema, sondern der entscheidende Paradigmenwechsel.“ Welzer stellte die bisherige Perspektive auf den Kopf und richtete damit „den klassisch nach hinten gerichteten Blick nach vorn. Von der Erklärung der Katastrophe der Vergangenheit zur Verhinderung der Katastrophe der Zukunft.“
Hier wird auch der Name seiner Stiftung FUTURZWEI klar: Welzer „denkt aus der Zukunft zurück in die Gegenwart, um dadurch handlungsfähig zu werden“. Er stellt sich aus der Zukunft die Frage, wie werde ich gehandelt haben, um ab heute ein gelingendes und nachhaltiges Leben zu führen?
Damit eng verbunden ist das Selbstdenken, welches Welzer auch als Buchtitel seiner vielleicht bislang wichtigsten (nachhaltigsten) Publikation gewählt hatte: „Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand“ (2014). Aus dem Selbstdenken (ganz im Kant´schen Sinne) erwächst Selbsterkenntnis, und auf diese „folgt Handeln, wobei Welzer […] der „praxis“ den Vorzug vor der „poesis“ gibt und das Tun dem Herstellen vorzieht. Nicht das Wissen verändert die Welt, sondern durch Handeln entsteht überhaupt erst das nötige Wissen.“
Welzers philosophisches Denken sieht Ludger Heidbrink, Professor für praktische Philosophie in Kiel und ehemaliger Mitstreiter vom KWI Essen, in der aristotelischen Tradition des Eudaimonismus, der „Lehre vom höchsten Gut, das im gelingenden Leben besteht“. Und das gelingende Leben lässt sich auf vielerlei Weise erreichen; davon künden die vielen „Geschichten vom Gelingen“, die auf der Plattform von FUTURZWEI nachzulesen sind.
Die Liste der Autoren, die in diesem dicken Taschenbuch über „Welzers Welt“ schreiben, ist beeindruckend: 86 sind es insgesamt, darunter viele berühmte Namen wie Precht, Assmann, Trojanow, von Randow, Habeck, Misik, Riemann oder Vinken. Das Spektrum ist breit: Wissenschaftler, Politiker, Schauspieler, Schriftsteller. Vor allem aber zeichnen sich die Beiträge(r) durch eine hohe Kompetenz aus. Sie zeigen auch, wie vielfältig die Themen sind, die Harald Welzer aufgreift.
Man kann sich wunderbar durch die 460 Seiten der Beiträge lesen und auf eine Fülle von Anregungen stoßen. Es ist nicht ausgeschlossen, ja, sogar sehr wahrscheinlich, dass man durch diese bunte und inspirierende Lektüre verführt wird, sich Welzers eigenen Büchern zuzuwenden. Ebenso wahrscheinlich ist es aber (und das dürfte vor allem Harald Welzer selbst freuen), dass diese zahlreichen Berichte über „Störungen im Betriebsablauf“ dazu beitragen, dass beim Leser ein Bewusstsein dafür entsteht, solche Störungen im eigenen Umfeld aufzuspüren. Bestenfalls dient dieses Buch sogar als erster Anstoß zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung und als Auslöser zum Selbstdenken einer hoffentlich großen Leserschaft.
Autor: Dana Giesecke, Hans-Georg Soeffner, Klaus Wiegandt (Hg.)
Titel: „Welzers Welt — Störungen im Betriebsablauf“
Taschenbuch: 480 Seiten
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596702704
ISBN-13: 978-3596702701
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