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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Interview mit Rebekka Reinhard auf der Frankfurter Buchmesse am 9.10.2013

Am: | Oktober 18, 2013

RALPH KRÜGER: Frau Reinhard, Sie haben ein Buch über die Schönheit geschrieben. Getreu der philosophischen Dreiteilung in Körper, Seele und Geist reden Sie vom schönen Sein, vom schönen Schein und vom schönen, d.h. gelingenden Leben. das sind ja sehr unterschiedliche Bereiche. Was ist schön?

REBEKKA REINHARD: Stendhal sagte einmal: „Schönheit ist nur ein Versprechen von Glück“, und genau drum geht es mir in meinem Buch. Ich möchte zeigen, dass wir uns alle – aber besonders wir Frauen – gar nicht die perfekte Frisur, den perfekten Körper, das perfekte Aussehen wünschen, sondern letztlich geht es nur darum, durch ein ansprechendes Äußeres geliebt und anerkannt zu werden und Erfolg zu haben. Letzten Endes geht es uns also nur um ein schönes, gelungenes Leben.

RALPH KRÜGER: Im Sinne der griechischen Philosophie.

REBEKKA REINHARD: Ganz genau. – Das wäre also eine mögliche Definition von Schönheit, dass ihr stets ein Sinnversprechen innewohnt. Dann kann ich natürlich den Standpunkt der Pythagoreer oder der heutigen Attraktivitätsforscher einnehmen und behaupten, dass Schönheit messbar ist. Aber auch das ist keine letztlich befriedigende Antwort; denn ich kann Schönheit zwar messen, aber ich kann niemals genau sagen, woraus sie sich zusammensetzt. Eine alles erklärende Schönheitsformel wurde ja bis heute nicht gefunden. Der Schönheit wohnt also immer auch ein Geheimnis inne.

RALPH KRÜGER: Sie haben am Ende ihres Buches einen Abschnitt eingefügt, in dem Sie einen geschichtlichen Abriss der Philosophie der Schönheit geben: Beginnend mit Platons Idee des Schönen als Teil des Schönen-Guten-Wahren; dann Aristoteles und sein Modell des tugendhaften Schönen; die Pythagoreer, die die Schönheit in Maß und Zahl suchten… So ging die philosophische Beschäftigung mit der Schönheit, die man erst seit Alexander Baumgarten im 18. Jahrhundert als Ästhetik bezeichnet, immer weiter…

REBEKKA REINHARD: … und man begann, die Schönheit zu subjektivieren.

RALPH KRÜGER: David Humes These, die Schönheit sei keine Eigenschaft des Gegenstandes, sondern läge im Auge des Betrachters. Schönheit sei also eine subjektive Wahrnehmung. Kant wiederum war der Ansicht, dieses subjektive Schönheitsempfinden zeichne sich durch seine Forderung nach einer Allgemeingültigkeit aus: Was ich selbst als schön empfinde, sollen andere auch schön finden. Von Kant stammt auch die schöne Formulierung, die Haltung, die wir einem Kunstwerk entgegen bringen, sei ein – –

REBEKKA REINHARD: Die Haltung, die wir einem Kunstwerk gegenüber einnehmen, sei ein „interesseloses Wohlgefallen“!

RALPH KRÜGER: Dies halte ich auch für eine sehr schöne Möglichkeit, die eigene Haltung gegenüber einem Kunstwerk – und nicht ihm gegenüber, sondern eigentlich allen schönen Dingen gegenüber – zu prüfen. Sie bringen in Ihrem Buch ein schönes Beispiel, das auch von Kant stammt: Wenn wir ein schönes Stillleben mit einer Obstschale betrachten, sollten wir uns fragen, was wir daran schön finden. Falls wir beim Betrachten des Bildes plötzlich Appetit auf Obst bekommen, so ist unsere Haltung kein interesseloses Wohlgefallen, sondern wir finden das Bild schön, weil uns das leckere Obst in dem Bild anregt und uns an unseren Hunger erinnert. – Im ersten Teil Ihres Buches geht es sehr viel um die äußere Form von Schönheit.

REBEKKA REINHARD: Genau, es geht um den Schönheitskult und den Schönheitswahn unserer Zeit.

RALPH KRÜGER: Das war ja früher einmal anders. Die Griechen betrachteten die Schönheit nicht isoliert, sondern verbanden das Schöne mit dem Guten und dem Wahren.

REBEKKA REINHARD: Das war die antike Idee der Kalogathia oder auch Kalokagathia.

RALPH KRÜGER: Diese Sichtweise scheint uns ja vollkommen verloren gegangen zu sein.

REBEKKA REINHARD: Ja und nein. ich zitiere ja eingangs meines Buches die Trendforscherin Europa Bendig, die – wahrscheinlich ohne zu wissen, dass es so etwas wie die Kalogathia gibt – sagt, dass in Zukunft vor allem auch die Ausstrahlung und die Persönlichkeit des Menschen sowie seine charakterliche Güte darüber entscheiden werden, ob wir jemanden als schön bezeichnen oder nicht. Da finden wir schon noch eine Orientierung an diesem Kalogathia-Ideal. – Bei meinen Recherchen für diesen ersten Teil meines Buches bin ich auch auf das offizielle Magazin zur Sendung „Germany’s Next Top Model“ gestoßen. Ich fand sehr interessant, wie sich die Kandidatinnen darin beschrieben: Für diese Kandidatinnen war es wesentlich, dass sie nicht nur ihre Hobbys nennen und im Sinne einer Selbstdarstellung erzählen, was sie gerne machen; sondern sie schätzen sich auch alle als integer, zuverlässig, liebenswert usw. Insofern denke ich, der Kalogathia-Gedanke ist auch in heutiger Zeit grundsätzlich da. Aber in einer Zeit wie der unsrigen, in der es fast ausschließlich nur noch um den Schein geht statt ums Sein, um die Geste statt um den Geist, um die Form statt um den Inhalt, geschieht nahezu keine Reflexion mehr darüber, welche die inneren Faktoren der Schönheit sind, die uns nach außen hin attraktiv scheinen lassen. – Und genau um diese Dinge geht es dann auch im zweiten und dritten Teil meines Buches.

RALPH KRÜGER: Bei der Lektüre dieses ersten Teils dachte ich auch oft an die Oberflächlichkeit – im wahrsten Sinne – dieses von den Massenmedien vorgegebenen Schönheitsideals – der perfekten Hülle ohne Inhalt – eine Diktat übrigens, das ja schon lange nicht mehr nur für Frauen gilt…

REBEKKA REINHARD: Sondern auch für die Männer, natürlich.

RALPH KRÜGER: Haarlos muss er sein, aber nicht auf dem Kopf – und Waschbärbauch ist out…

REBEKKA REINHARD: Waschbärbauch geht gar nicht, genau.

RALPH KRÜGER: Aber ich hatte so die Vorstellung, dass wir uns alle nach einem sehr hoch gehängten Ideal strecken. Aber was passiert eigentlich, wenn wir alle diese hoch gelegte Latte erreichen? Sind wir dann nicht alle gerade einmal auf dem Nullniveau, dem absoluten Minimum angekommen? Wenn alle gleich schön sind, ist dann nicht die Schönheit in diesem Augenblick wieder entwertet? Sind wir dann nicht in diesem Moment auch wieder alle gleich? Und wo bleibt da eigentlich die individuelle Schönheit?

REBEKKA REINHARD: Die diktierte Schönheit nivelliert natürlich extrem, da haben Sie recht. Am Schluss sehen alle aus wie Retorten-Schönheiten. Wir kennen von den Operateuren auch den schönen Ausdruck der „Fließband-Beauty“. Dieses Schönheitsdiktat, das Sie angesprochen haben, ist besonders für die Frauen schlimm. Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Welt, bei dem das Weibchen schön zu sein hat, während es im Tierreich ja umgekehrt ist. Das Grausame für die Frauen hieran ist, dass es in unserer Zeit geradezu ein „Must“ ist, attraktiv und blond zu sein. – Ich selbst kann als Blondine davon aus Erfahrung sprechen: Das hat nicht nur Vorteile, es gibt leider auch viele Vorurteile… Das Grausame an dieser Zeit, in der Schönheit und Attraktivität in hohem Grade ein Must ist, liegt darin, dass das Normale mit hässlich gleichgesetzt wird. Nicht hässlich ist hässlich, wirklich hässlich ist natürlich total indiskutabel; sondern schon das Normale, ein normal weiblich geformter Körper wird als hässlich bezeichnet!

RALPH KRÜGER: Das war ja zum Glück nicht immer so. Aber haben Sie eine Idee, wie es so weit kommen konnte?

REBEKKA REINHARD: In den ersten Kapiteln meines Buches habe ich ja die drei Gründe benannt, die meiner Meinung zu dieser Entwicklung geführt haben: Narzissmus, Machbarkeit und Angst. Gerade der Narzissmus als psycho-kulturelle Epidemie und als ein kollektives, transnationales Phänomen ist sicherlich ein Hauptgrund für diese Tendenzen. Wir leben in einer Zeit der metaphysischen Obdachlosigkeit, wo wir einen Sinn nicht mehr im Jenseitigen finden können, weil wir keinen Gott mehr haben, an den wir kollektiv glauben. Also vergöttern wir uns eben selbst. Einer der Auswüchse ist diese Konzentration auf den eigenen Körper, diese Selbstoptimerungs-Religion, um das eigene Ich permanent zu enhancen und in Szene zu setzen. – Doch Sie schauen gerade sehr skeptisch… Wo ist das Aber?

RALPH KRÜGER: Es gäbe doch grundsätzlich auch eine andere Lösung, mit dem Problem umzugehen. Wir haben das Phänomen der Vereinzelung, die ja gerade auch durch die Möglichkeiten der Neuen Medien forciert wird. Die soziale Interaktion wird durch die technischen Möglichkeiten von Smartphone, Twitter, Facebook & Co. deutlich verstärkt, doch gleichzeitig findet diese Kommunikation immer seltener von Angesicht zu Angesicht statt. Eine Alternative zur Stärkung des Narzissmus als Lösung dieses Isolations-Problems könnte doch auch eine verstärkte soziale Interaktion auf realer Ebene sein, mit anderen Worten: Die Leute sprechen wieder real miteinander… Wir haben heutzutage viel mehr Freizeit als früher, wobei natürlich gerade wieder die neuen technischen Möglichkeiten den Arbeitsbegriff verändert und die frühere Grenze zwischen Arbeit und Freizeit nieder gerissen haben. Jedoch grundsätzlich verfügen wir über mehr Freizeit als früher, und diese Zeit könnten wir theoretisch nutzen, um uns mit unseren Freunden zu treffen und statt der Vereinzelung gerade die Gemeinschaft mit Anderen zu fördern…

REBEKKA REINHARD: Aber so ist das nun einmal leider nicht, sondern trotz dieser ganzen Social Media und der neuen Möglichkeiten, uns in der virtuellen Welt zu vernetzen, haben wir nicht mehr Gemeinschaft, sondern mehr Vereinzelung als vorher. Das sind ja letztlich nur Surrogate echter Kommunikation. Deswegen glaube ich, dass der Schönheitswahn zumindest ein Symptom des kollektiven Narzissmus ist, dass jeder sich selbst der Nächste ist und nur damit beschäftigt ist, sich selbst am besten zu vermarkten, anstatt lieber einen echten Dialog mit seinen Mitmenschen zu führen. – Ein weiterer Grund für den Schönheitswahn ist natürlich die Machbarkeit. Natürlich gab es auch schon im alten China die Mütter, die ihren Töchtern die Füße abbanden und verkrüppelten, damit sie am Ende diese Lotusfüßchen hatten und geheiratet wurden. Heute haben wir ganz andere Möglichkeiten chirurgischer Art, und diese Machbarkeit spielt natürlich auch eine Rolle. Und was machbar ist, wird gemacht.

RALPH KRÜGER: Das ist leider wahr. Wer gibt denn dieses Schönheitsideal vor? Wenn man an die Schönheitschirurgie und an die „Fließband-Beautys“ denkt, so ist das doch ein durchaus messbares Ideal.

REBEKKA REINHARD: Es gibt da drei verschiedene Looks, die ich auch in meinem Buch vorgestellt habe. „Tits on sticks“ unter Anderem… In erster Linie werden diese Looks von den Medien und von den Frauenzeitschriften vorgegeben. Wenn man weitergeht und sich klar macht, dass nach wie vor extrem schlanke Figuren bei Frauen gefragt sind, kann man natürlich sagen, die High Fashion, die Haute Couture gibt diese Regeln vor. Wenn man noch einmal weiterdenkt, merkt man schnell, wie pervers das eigentlich alles ist. Oft sind das homosexuelle Modeschöpfer, die von einem Avantgarde-Ideal träumen, bei dem es eigentlich nur darum geht, dass die Kleider gut fallen, und die fallen nun einmal besser an einem großen, aber extrem schlanken Frauenkörper… Dieses Avantgarde-Ideal ist letztlich massenkompatibel geworden und in der Lage, auch schon Teeny-Mädchen vor der ersten Regel dazu zu verführen, magersüchtig zu werden, was natürlich absolut fatal ist.

RALPH KRÜGER: Die Frau als Kleiderständer, die das schöne Produkt perfekt präsentiert und sich auch auf diese Weise selbst als marktkompatibel erweist.

REBEKKA REINHARD: Genau. Natürlich kann man das Ganze auch noch einmal soziologisch oder gesellschaftshistorisch beleuchten. Historisch betrachtet war immer auch gerade das gefragt, was rar war. In einer Zeit des absoluten Wohlstand, in der wir alle fressen könnten, bis wir ersticken, ist natürlich das Seltene gefragt, in diesem Fall die Schlankheit. Genauso gab es früher ja Zeiten, in denen es modisch war, sich im Sommer eben gerade nicht zu bräunen, sondern eine vornehme Blässe zu zeigen; während es heute ein Zeichen von Reichtum ist und man gerne zeigt, dass man es sich leisten kann, auch im Winter in warmen Ländern Urlaub zu machen und braun gebrannt nach Hause zurück zu kehren. Immer ist also besonders das Rare gefragt.

RALPH KRÜGER: Kommen wir zum zweiten Teil Ihres schönen Buches: die schöne Seele und der schöne Schein.

REBEKKA REINHARD: In diesem zweiten Abschnitt untersuche ich die beiden Pole innerer Schönheit: den platonischen Eros, also die Liebe zum ideell Schönen, und auf der anderen Seite das Dionysische. Meine These lautet, dass eine Seele, die nach außen Charisma entfaltet, letzten Endes immer hin und her schwingen sollte zwischen den geistigen Höhen des Schönen, Edlen, Kontemplativen und dem abgrundhaft Rauschhaften und Dionysischen.

RALPH KRÜGER: In diesem Zusammenhang kommen Sie auch auf Edmund Burke zu sprechen…

REBEKKA REINHARD: … und auf das Erhabene…

RALPH KRÜGER: Das Erhabene oder auch Sublime ist ja eigentlich etwas, das uns zunächst doch vor allem ängstigt und überwältigt. Ich fand sehr spannend, dass Sie diese doch eigentlich zunächst eher negativ konnotierten Gefühle mit der Schönheit assoziieren. Als schön können wir eben auch eine erhabene Seele empfinden, wobei Erhabenheit nicht immer nur positiv konnotiert sein muss, wie Sie an dem Beispiel Adolf Hitler zeigen. Hitlers äußere Schönheit ging gegen Null, aber er verfügte zweifellos über ein starkes Charisma, mit dem er die Leute in seinen Bann zog, und über die Fähigkeit, seine Hörer mit dem Erhabenen zu konfrontieren.

REBEKKA REINHARD: Hitler verfügte über eine geradezu perfekte Illusions-Maschinerie.

RALPH KRÜGER: Sie nennen aber auch noch die Diven als ein Gegenbeispiel. Diven ziehen uns an durch die schöne Ausstrahlung ihrer Seelen. Diven wie Marilyn Monroe oder Elizabeth Taylor faszinieren uns, weil sie ein gefährliches, ein extremes Leben am Abgrund führen. Ich denke, wir brauchen in diesem Zusammenhang lieber nicht auf das Phänomen Daniela Katzenberger eingehen, das Sie in Ihrem Buch auch ein wenig skizzieren…

REBEKKA REINHARD: Nee, ich glaube, Frau Katzenberger passt auch nicht zu den kulturbuchtipps…

RALPH KRÜGER: Aber letztlich ist auch Frau Katzenberger ein Teil unserer Kultur!

REBEKKA REINHARD: Das ist richtig. Auch die Populärkultur gehört zur Kultur.

RALPH KRÜGER: Schauen wir uns noch schnell den dritten und letzten Teil Ihres Buchs an. Er handelt vom schönen, vom gelingenden Leben. Es geht also um die richtige Lebensführung, die eine schöne Seele mit einem schönen Körper verbindet. Hier sind wir also wieder bei der Idee der Kalokagathia, unter deren Beachtung man durch Übung letztlich zur Eudaimonia, der Glückseligkeit gelangt.

REBEKKA REINHARD: Genau, das ist die Eudaimonia: das gelungene, sinnvolle und schöne Leben.

RALPH KRÜGER: Hier sind wir wirklich im zentralen Abschnitt Ihres Buches angelangt, und dieser Abschnitt ist wirklich ganz wunderbar, denn er enthält alles, was man wissen muss, um aus seinem trübsinnigen und langweiligen Leben ein gelungenes, schönes und sinnvolles Leben zu machen! Sie nehmen Epikur, Epiktet und Montaigne, und damit ist im Grunde schon alles gesagt: Man soll das Leben nehmen, wie es kommt; man soll also das Gute wie das Schlechte annehmen.

REBEKKA REINHARD: Diese Akzeptanz ist ganz wichtig. Vor allem muss man auch lernen, das Unabänderliche zu akzeptieren. Das finden wir sogar bei Montaigne, diesem Obergenießer, wenn er über seine Nierenkoliken schreibt. Das ist eben das Tolle an seinen „Essais“, dass er seine grauen Zellen einsetzt um zu staunen! Er betrachtet seine Nierenkoliken wie ein Ameisenforscher die Ameisen – das ist spannend! Und er kommt zu dem Ergebnis, dass man die Krankheiten höflich behandeln muss. Diese Lebenskunst, das Unabänderliche freudig zu akzeptieren und sie nicht einfach nur Zähne knirschend zu ertragen, ist ein ganz wesentlicher Punkt – und trotzdem dabei auch nicht zu vergessen, die schönen Seiten des Lebens zu sehen und zu genießen! In diesem Zusammenhang ist natürlich ganz wichtig, was die Stoiker und Epikureer uns lehren: die Kunst des Gegenwärtigseins. Diese Kunst finden wir natürlich auch in der fernöstlichen Philosophie wieder: das Im-Hier-und-Jetzt-Sein.

RALPH KRÜGER: Also jener Zustand, in dem wir uns am wenigstens befinden. Denn wir sind meistens mit den Gedanken noch mit der Aufarbeitung des vergangenen beschäftigt oder machen schon Pläne für Zukünftiges.

REBEKKA REINHARD: Genau! Eine Katastrophe! Wir sind kognitiv völlig durchgedreht, wir sind mental übersteuert, und damit bringen wir uns um unser ganzes Leben, weil wir nie richtig da sind. Wir sind zwar da, aber nicht präsent.

RALPH KRÜGER: Was man von uns beiden im Moment allerdings sagen kann…

REBEKKA REINHARD: Wir sind da und wir sind sehr engagiert im Gespräch, und eigentlich ist es wie eine Meditation.

RALPH KRÜGER: Aber eine solche Konzentration muss man – wie das ganze gelungene Leben – einüben. Das ganze Leben wird also zu einer Askesis, einer Übung.

REBEKKA REINHARD: Es ist eine Askese auch im alltäglichen Sinne, denn wir haben zu viel von allem. Wir sollten alles auf das Wesentliche reduzieren und uns auf die Prioritäten konzentrieren. Man muss vor allem auch bei sich bleiben, ein freundschaftliches Verhältnis zu sich selbst pflegen und absehen von dem „Man“, wie Heidegger immer sagt: Das „Man“ oder die „Herde“, wie Nietzsche es nennt. – Das ist absolut wichtig. Ich habe ja in München eine philosophische Beratungspraxis. Mit der Zeit habe ich durch Trial und Error herausgefunden, welche Philosophen den Menschen am meisten helfen. So bin ich natürlich bei den Griechen gelandet; seitdem ich dort das Konzept der Askese entdeckt habe, lebe ich auch selber danach – oder ich versuche es zumindest. Ich merke wirklich, was das für eine Befreiung ist, nicht in dem Bewusstsein zu leben, dass das Leben ein Kampf oder eine Unverschämtheit ist, weil es keine Gerechtigkeit gibt, sondern in dem Bewusstsein zu leben, dass das ganze Leben eine Übung ist! Falle ich hin – ja, und?! Dann stehe ich eben wieder auf! Das ist doch gerade das Spannende am Leben: Es ist ein Experiment und eine Übung.

RALPH KRÜGER: Ich bin überzeugt, dass dies den Lesern Ihres Buches auch klar sein wird: Diese Askesis setzt natürlich einerseits die Atharaxía – die innere Seelenruhe – voraus und andererseits die Apátheia, die man jedoch nicht mit Leidenschaftslosigkeit verwechseln darf.

REBEKKA REINHARD: Apátheia meint eben nicht im landläufigen Sinne Apathie, sondern bedeutet eigentlich nur „Freiheit von aufreibenden Gefühlen“ – also Stress, Angst und Wut und so.

RALPH KRÜGER: Genau. Das haben Sie auch im Buch sehr schön erklärt, dass mit Apátheia eben nicht gemeint ist, dass einem alles egal ist. – Sie haben es eben schon angedeutet, dass Sie eine eigene philosophische Beratungspraxis haben. Können Sie uns am Ende vielleicht noch ein wenig über diese Arbeit erzählen? Was für Leute kommen zu Ihnen in die Praxis?

REBEKKA REINHARD: Das ist ganz schwer zu generalisieren, weil die Leute, die zu mir kommen, wirklich sehr unterschiedlich sind. Vom Alter her zwischen 25 und 70, dann auch ungefähr 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen. Die Anliegen sind sehr unterschiedlich. Ich habe sehr viele Leute, die wegen Partnerschaftsproblemen kommen. Liebe ist ja auch wirklich ein existenzielles Thema. Dann chronischer Stress: Leute, die im Hamsterrad laufen, viele Selbstständige, die sagen, ich brauche jetzt meine Philosophin – meinetwegen alle vier Wochen -, damit ich mal wieder zu mir komme und sehe, was wirklich wichtig ist, und damit ich mich nicht verliere. Dann gibt es natürlich auch Frauen um die Fünfzig, wo die Kinder langsam aus dem Haus sind oder wo vielleicht eine Scheidung passiert ist. Die fragen sich oft, ob das Leben, das sie bis jetzt gelebt haben, wirklich ihr eigenes Leben war – oder ob sie ein falsches Leben gelebt haben, weil sie sich nur nach Konventionen gerichtet haben. Die fragen sich oft: Wer bin ich eigentlich? Jene Frauen stellen sich ihre Identitätsfrage neu. Identitätskrisen, Sinnkrisen, beim Mann die Midlife Crisis, die heute manchmal schon ab 30 einsetzt. Dann habe ich aber auch einige Klienten, die sich die philosophische Beratung eher als einen philosophischen Privatsalon wünschen. Diese Leute wünschen sich wirklich eher eine Art Vorlesung von mir. Jene Leute möchten ihr Privates nicht so gern nach außen tragen; dann reden wir eben gepflegt über Platon oder über Schopenhauer…

RALPH KRÜGER: Kommen die Leute auch mit Schönheitsproblemen zu Ihnen – im weitesten Sinne?

REBEKKA REINHARD: Hatte ich bis jetzt eigentlich noch nicht. Aber ich habe natürlich viele Frauen als Klientinnen, die extrem mit Selbstwertproblemen zu tun haben und wo letzten Endes auch die Unzufriedenheit mit dem Äußeren schon eine gewisse Rolle spielt.

RALPH KRÜGER: Ich stelle mir Ihre Arbeit sehr abwechslungsreich und spannend vor.

REBEKKA REINHARD: Das ist auch sehr spannend! Vor allem lerne ich selbst mindestens genau so viel von meinen Klienten lerne wie die von mir. Außerdem bin ich ja seit 2006 auch in der Psychiatrie tätig und philosophiere einmal die Woche mit Depressions- und Angst-Patienten; das ist auch ein ganz wichtiger Teilbereich meiner Arbeit.

RALPH KRÜGER: Kann man die Gesprächssituationen oder die Themen vergleichen?

REBEKKA REINHARD: Ja, ich denke, das kann man schon. Ich behandle alle gleich. Ganz egal ob ich einen Klienten in meiner Praxis habe, ob ich einen Vortrag bei BMW halte oder ob ich in der Psychiatrie arbeite: Ich behandle alle gleich, ich spreche über die Themen, die sie sich wünschen – meist sind es existenzielle Themen wie Liebe, Freiheit, Endlichkeit, Angst vorm Tod. – Man muss natürlich dazu sagen, dass die Patienten in der Psychiatrie auch Medikamente und parallel auch eine Verhaltenstherapie kriegen, so dass meine Arbeit dort in einem interdisziplinären Setting angesiedelt ist. Gleichwohl sind die Psychiatrie-Patienten immer in einer Extremsituation; insofern herrscht dort schon eine etwas andere – eine dringlichere Gesprächssituation als in meiner Praxis.

RALPH KRÜGER: Und mit diesen Patienten behandeln Sie dieselben Fragen?

REBEKKA REINHARD: Wie gesagt, es sind eigentlich die gleichen Fragen. In der Klinik geht es allerdings noch mehr um die Themen Glaube und Spiritualität. Gerade chronische Depressionspatienten, die schon alles ausprobiert haben und bei denen nicht einmal mehr die Elektrokrampf-Therapie wirkt, die sind mit ihrer Weisheit einfach oft am Ende…

RALPH KRÜGER: Da hilft dann die Religion.

REBEKKA REINHARD: Ganz genau! Das Positive für die Leute dabei ist, dass ich keine Seelsorgerin bin, sondern Philosophin. Ich bin also weltanschaulich nicht gebunden. Deshalb können wir zum Beispiel auch über den Buddhismus oder den Taoismus sprechen und gemeinsam herausfinden, wie man einen Glauben entwickeln oder überhaupt wieder lernen kann zu glauben. Oft bin auch ich mit meinem philosophischen ABC am Ende; aber es ist einfach spannend zu sehen, welche Inspirationen man den Leuten geben kann, um ihnen erst einmal wieder einen Boden unter ihren Füßen zu schaffen.

RALPH KRÜGER: Ganz kurz noch zwei Fragen: Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Thema und wie gehen Sie an ein solches Buchprojekt heran?

REBEKKA REINHARD: Bei mir ist das Bücherschreiben ein „work in progress“: Eine Idee führt zur nächsten. Während des Schreibens meine Buches „Die Sinn-Diät“ habe ich zum Beispiel aus dem Kapitel „Das Fremde“ die Idee für das nächste Buch „Odysseus oder Die Kunst des Irrens“ entwickelt. Das letzte Buch vor diesem hier war ja „Würde Platon Prada tragen?“, in dem es sehr viel um Fashion und so weiter ging, und das hat natürlich auch zu diesem Thema Schönheit geführt. Aber abgesehen davon hat dieses Buch auch eine längere Geschichte, denn ich bin selbst eine große Ästhetin, ich liebe Schönheit – nicht nur schöne Menschen, ich schaue mir natürlich auch gerne schöne Frauen an, keine Frage -, aber Kunst generell. Naturschönheit, die bildende Kunst und auch die Musik sind mir sehr wichtig, ich kann ohne Schönheit nicht leben, und insofern ist die Schönheit eines meiner „Leib- und Magen-Themen“. Dann habe ich es auch als meine Pflicht gesehen, auch als Philosophin einmal Stellung zu beziehen gegen diesen ganzen Schönheitswahn. Und letztlich waren es auch ein bisschen die Leute in der Psychiatrie, die mich darauf gebracht haben: Wir haben dort ja ausschließlich mit stationären Patienten zu tun. Bei den chronischen Patienten ist es sehr oft so, dass das Krankenzimmer aussieht wie ein Schlachtfeld. ist ja auch klar: Das Leben liegt in Trümmern; wieso soll ich dann noch mein Bett machen? Dann gibt es aber immer einige wenige Patienten, die trotz dieses ganzen Elends diese Haltung bewahren und den Willen besitzen, ihr Zimmer schön zu machen! das heißt, die machen ihr Bett, die hängen sich Kinderzeichnungen auf, die stellen sich selber Blumen ins Zimmer. Bei diesen Patienten habe ich immer wieder gemerkt, was für eine „Sinnquelle“ Schönheit auch sein kann! Der Versuch, aus dem Chaos einen Kosmos zu machen.

RALPH KRÜGER: Der Weg der Welt nach der griechischen Naturphilosophie aus dem Chaos zum Kosmos, aus der Unordnung in die Ordnung. Man schafft sich also eine eigene Ordnung, die einem Halt gibt, und einen Boden, auf dem man fester steht als in der Welt da draußen, die man nicht versteht und die man nicht beeinflussen kann…

REBEKKA REINHARD: Ganz genau. Ordnung ist Schönheit und Schönheit ist ein existenzielles Bedürfnis wie Glück oder Liebe. Schönheit ist ein existenzielles Bedürfnis, wie man ja auch schon in der DDR gesehen hat. Ich kann mich noch erinnern: Als wir da rüber sind – das war kurz vor der Wende mit der Schule -, da hat mich am meisten schockiert, nichts Schönes zu sehen. Alles war grau, auf dem Balkon eine einzige Blume – und wenn ich so etwas sehe, dann weiß ich, da ist kein Sinn mehr für Schönes, das ist der Tod.

RALPH KRÜGER: Das ist doch eigentlich auch eine hübsche These: Die DDR ist untergegangen, weil sie hässlich war! – Schönheit ist also ein zentrales Thema für Sie. Wie sind Sie jetzt konkret ans Schreiben heran gegangen? Gehen Sie eher klassisch vor, indem Sie zunächst eine Gliederung machen und dann brav Kapitel für Kapitel schreiben? Oder ist auch das Schreiben selbst ein eher kreativer Prozess mit unerwarteten Entwicklungen?

REBEKKA REINHARD: Beides. Ich bin schon sehr diszipliniert. Zunächst habe ich eine umfangreiche Recherche, die dauert vielleicht ein halbes oder ein dreiviertel Jahr, in dem ich überhaupt nichts schreibe, sondern mir nur Notizen mache. Dann mache ich tatsächlich meine Gliederung; ich weiß also im Großen und Ganzen, was ich schreiben will, aber dann wird es wirklich interessant: Der Schreibprozess führt einen tatsächlich auch oft zu anderen Aspekten, die man theoretisch nicht bedacht hat, und das ist das Magische beim Schreiben. Bei diesem Buch hatte ich eine Vorgabe: Weil ich bereits sehr viele Vorträge halten musste und sonstige Aufgaben hatte, habe ich versucht, wenigstens ein Kapitel pro Monat zu schreiben. Das war schon sehr anspruchsvoll, wenn man auch noch was Anderes macht. Ich bin natürlich auch nicht immer gleichgut drauf, aber ich bleibe sitzen; und wenn ich dann wenigstens vier Sätze habe, dann kann ich beim nächsten Mal wieder daran anknüpfen. Also knallharte Disziplin! Es ist aber auch immer wieder ein tolles Erlebnis, so etwas aus sich heraus zu schaffen und zu sehen, wie es dann irgendwie auch ein Eigenleben kriegt.

RALPH KRÜGER: Wir befinden uns ja hier auf der Frankfurter Buchmesse und sind von Büchern umgeben. Wie ist das Verhältnis von Schönheit und Büchern? Wenn ich ein schönes Bild betrachte oder eine wohlgeformte Vase oder eine schöne Frau wie Sie, dann ist mein subjektives Empfinden des Schönen ganz direkt und unvermittelt. Wie sieht das aber aus, wenn ich lese und sage: Diese Geschichte ist schön? Da haben wir es doch mit einer anderen Form des Zugangs zu tun als bei den oben genannten Beispielen…

REBEKKA REINHARD: Ich verstehe, was Sie meinen. In diesem Fall ist es eine keine sinnliche Wahrnehmung des Schönen im Sinne des griechischen Wortes Aisthesis, sondern dieses Schönheitsempfinden ist ein rein geistiges Geschehen.

RALPH KRÜGER: Na ja, wir nehmen ja schon zunächst über unsere Sinne die Buchstaben des Textes wahr…

REBEKKA REINHARD: Eine reduzierte Aisthesis, das ist schon richtig, aber im Wesentlichen findet auch dieses Schönheitsempfinden im Kopf statt. Ich denke, die Schönheit einer Geschichte zeigt sich auch dadurch, dass ich in dieser Geschichte etwas als zutiefst „wahr“ erkenne; und diese Freude der Erkenntnis ergreift mich, und das ist dann das Schöne beim Lesen.

RALPH KRÜGER: Das ist doch ein schönes Schlusswort: Das Schöne am Lesen ist die freudige Erkenntnis der Wahrheit. Frau Reinhard, ich danke Ihnen für dieses – schöne Gespräch!

REBEKKA REINHARD: Ich danke Ihnen!

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