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Bernhard Pörksen, Hanne Detel: „Der entfesselte Skandal – Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“

Am: | Mai 16, 2012

Deutschland wird Zeuge einer beispiellosen Rückrufaktion. Doktorwürden wurden offenbar nicht nur in Einzelfällen, sondern reihenweise ungeprüft vergeben. Der nachträgliche Entzug des Doktortitels nach einer eingehenden fachlichen Prüfung und der damit meist einhergehenden Selbstbezichtigung der/des Beschuldigten können nur im Nachhinein den Rechtszustand wiederherstellen, jedoch nur in wenigen Fällen den nachhaltigen Schaden des Ansehens der Universitäten und des Professorenstands insgesamt abwenden.

Copy & Paste ohne Quellenangaben sind probate Mittel der vorsätzlichen Täuschung und des Betrugs. Ob man als Familienvater überlastet war – wie sich Herr Guttenberg aus der Schlinge zu befreien versuchte – oder ob es einfach nur Nachlässigkeit (und damit kein wissenschaftliches Arbeiten) war, ist zweitrangig.

Der jüngste Fall von Schummelverdacht betrifft pikanterweise offenbar die amtierende Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan. Auf den Internetseiten des „Schavanplag“ werden die fraglichen Stellen der Doktorarbeit von 1980 zitiert und die Plagiatsvorwürfe gesammelt.

Ob die Vorwürfe im Fall Schavan berechtigt sind oder nicht, wird man abwarten müssen. Es bleibt jedoch die traurige Erkenntnis, dass in Deutschland offenbar nicht alle Doktoren ganz so ehrenwert zu ihrem Ehrentitel gekommen sind, wie man es von Mitgliedern der Bildungselite erwarten sollte.

Interessant an diesen vielen Plagiatsfällen der letzten Zeit ist jedoch noch etwas anderes. Es scheint in unserem Lande Menschen zu geben, die ein aktives Interesse an der Dekonstruktion institutionalisierter Machtstrukturen haben. Wie sonst könnte man sich die heimliche Lust erklären, die Menschen dazu veranlasst, Doktorarbeiten bekannter Persönlichkeiten zu scannen und mit anderen Quellen zu vergleichen? Denn dieser Textvergleich ist keine leichte Aufgabe, die man mit wenigen Klicks erledigen kann, sondern man muss eine Menge Zeit und Arbeit in diese Suche stecken. Wieso macht man das, was sind die Motive?

Dieser Frage gehen Bernhard Pörksen und Hanne Detel in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal“ nach. Das Internet als Skandalmedium und als Sprachrohr und Waffe der Vielen wird von den beiden Soziologen eingehend untersucht. Im Falle der –plags (Guttenplag, Vroniplag & Co.) ist die Antwort auf die Frage nach dem Wieso simpel: Die Doktorarbeiten werden gescannt, weil wir dazu in der Lage sind: Die Schwarmintelligenz der Vielen zerhackstückt eine Doktorarbeit mit Leichtigkeit; ein einzelner Professor ist dazu nicht in der Lage.

Die beiden Autoren nehmen sich jedoch nur beiläufig dem „Phänomen Plagiatsverdacht“ an, sondern untersuchen die vielen Internet-Skandale der letzten Jahre auf ihre Hintergründe. Ob die Wikileaks-Affäre mit der offen gelegten Daten aus dem Irakkrieg durch den Soldaten Mannings, ob die veröffentlichten Fotos aus den Folterkellern von Abu Ghraib, der digitale Scheidungskrieg der Tricia Walsh-Smith oder die Schicksale von Gao Qianhui oder der Studentin Wang Qianyuan – das Internet ist neben alle unbestrittenen Vorteilen der schnellen und transparenten Kommunikation auch zu einem Instrument der Offenlegung von Missständen sowie zur globalen Anprangerung geworden.

Mit ein wenig Geschick wird das Internet zum idealen Medium für passionierte Rufmörder. Diese Gefahr bestand theoretisch schon immer, jedoch machen die sozialen Netzwerke, mobile Apps und Breitband-Verbindungen diesen Missbrauch leichter als je zuvor.

Richtig interessant wird dieses Phänomen jedoch vor allem aus soziologischer Sicht. Denn der digitale Pranger würde im Netz keine Resonanz finden, wenn sich die Leute nicht dafür interessierten. Woher aber kommt diese Lust am Offenlegen und Bloßstellen?

Untersucht man das Verhalten der Internetnutzung von Jugendlichen, so offenbart sich zum einen ein weit verbreiteter Hang zur digitalen Exhibition. Bilder, Videos und Daten werden ins Netz gestellt und weitgehend schrankenlos mit anderen Nutzern geteilt. Der globale Erfolg eines aggressiven Datensammlers wie Facebook wäre ohne jene freigebige Grundisposition breiter Nutzerschichten überhaupt nicht möglich.

Die Kehrseite dieser Freigebigkeit ist die Schaulust. Nur die potenzielle Rezeptionsbereitschaft der digitalen Masse macht es möglich, dass ein „Skandal“ im Netz wahrgenommen und bei entsprechender Attraktivität zum Hype wird. Hierbei unterscheiden sich die peinliche Bloßstellung von Personen und die Offenlegung beweisbarer Fakten nur auf der semantischen (also inhaltlichen) Ebene und beeinflussen nicht die Geschwindigkeit, mit der sich die Informationen im Netz verbreiten.

Die beiden Autoren nehmen sich nicht nur der oben beschriebenen Fallbeispiele an, sondern untersuchen auch die Ursachen der Skandalsucht und die möglichen Folgen für das Internet als Kommunikationsmedium. Sie konstatieren bereits jetzt den prekären Zustand eines totalen Kontrollverlustes. Doch wer will, soll und kann das Internet kontrollieren? Nationale Gesetze reichen naturgemäß immer nur bis zur eigenen Landesgrenze, und selbst EU-Richtlinien fassen nicht in anderen Teilen der Welt. Der Server-Standort ist der Ort des Gerichtsstands, und da macht es eine Menge aus, ob die Rechner in Berlin stehen oder in Burundi.

„Der entfesselte Skandal“ ist ein spannendes Buch über unsere digitale und mediale Wirklichkeit. Der Zustand der Netzkultur sagt eine Menge über unsere eigene kulturelle Kapazität aus. Der entfesselte Skandalhunger wird sich statt mit Gesetzen nur mit neuen moralischen Werten drosseln lassen. Und so ist wieder einmal ein Perspektivenwechsel nötig, um der unheilvollen Bewegung Einhalt zu gebieten. Denn aus dem ursprünglich positiven und sehr zu begrüßenden Trend zu mehr Transparenz ist ein unheilvoller Hang zum Skandal geworden.

Dagegen kann man etwas tun. Man kann einfach weiter klicken und weg hören. Und man kann dieses Buch lesen, um unsere Zeit besser zu verstehen. Und um ein erwachseneres Verhalten im Umgang mit Skandalnudeln einzuüben.

Autor: Bernhard Pörksen, Hanne Detel
Titel: „Der entfesselte Skandal – Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“
Gebundene Ausgabe: 248 Seiten
Verlag: Halem
ISBN-10: 3869620587
ISBN-13: 978-3869620589

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