DHM, David Blankenstein, Bénédicte Savoy u.a. (Hg.): „Wilhelm und Alexander von Humboldt“
Am: | Juni 23, 2020
In der Vorrede zum ersten Band seines Hauptwerks „Kosmos“ schrieb Alexander von Humboldt, dass „ohne den ernsten Hang nach der Kenntniß des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“.
Diesem ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen kann der Leser dieser schönen, parallel zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum erschienenen Publikation folgen, sofern es um das Leben und Werk der beiden Humboldt-Brüder geht.
Warum gerade jetzt? Die Frage ist schnell beantwortet: 2019 feierten wir den 250. Geburtstag von Alexander und Wilhelm. Das DHM fast kurz zusammen, warum das Leben und das Werk dieser beiden Kosmopoliten für ihre damalige Zeit so außergewöhnlich und für unsere Zeit so interessant und spannungsreich machen:
„Sie verkörpern die Errungenschaften öffentlicher Bildung, eine neue Sicht auf die Natur und den unvoreingenommenen Blick auf die Kulturen jenseits Europas. Ihre Biografien sind jedoch auch von den Gegensätzen ihrer Zeit geprägt: Dem in der Aufklärung entworfenen Bild der Gleichheit der Menschen stehen die Existenz von Kolonialismus und Sklaverei entgegen. Die Neuentdeckung der Natur geht auch mit ihrer Beherrschung und Zerstörung einher. Internationaler Austausch und Kooperation verhindern nicht die nationale Abgrenzung.“
Die beiden Kunsthistoriker Bénédicte Savoy und David Blankenstein haben sich intensiv mit den Humboldts beschäftigt, haben lange recherchiert, internationale Sammlungen durchkämmt und auf diese Weise viele bemerkenswerte Objekte zusammengetragen. Das Ergebnis beeindruckte nicht nur in der umfangreichen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, sondern auch in diesem schönen Bildband mit seinen zahlreichen klugen Objektbeschreibungen und Essays.
Als Kriterium für die Gliederung dieses Bildbands bot sich, wie so oft, die chronologische Sortierung der Objekte an, die alle auf die eine oder andere Weise mit dem Leben und Werk der Humboldts in Beziehung stehen. Das Ergebnis ist ein schlaues Buch über das Weltbild und das Wissenschaftsverständnis des frühen 19. Jahrhunderts, das beide Wissenschaftler auf ihren jeweiligen Gebieten maßgeblich geprägt haben.
Die Erforschung der Natur und der Sprachen, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, die Erfassung der globalen Zusammenhänge, die Kenntnis des Kleinsten und das Begreifen der „Ordnung“ des Ganzen — denn nichts Anderes meint der aus dem Griechischen stammende Begriff „Kosmos“ — all dies war beiden Forschern wichtig. Für beide war das wissenschaftliche und methodische Arbeiten die Grundlage für die Entwicklung eines neuen Verhältnisses zur Welt als ganzer und zur Erforschung ihrer einzelnen Phänomene.
Das gemeinsame Ziel war die „Bildung“, jener seit der Aufklärungszeit für den mündigen und für sein Schicksal selbst verantwortlichen Menschen zentrale Begriff für den Appetit auf Welterkenntnis mit dem Ergebnis der Entwicklung eines neuen bürgerlichen Selbstvertrauens.
Die Humboldts lebten in einem spannungsreichen und konfliktgeladenen Umfeld. Der Schwerpunkt ihres Wirkens liegt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und somit vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die nur wenig Ähnlichkeit mit unserer heutigen Zeit hatte, obwohl uns vieles in der Rückschau vertraut vorkommen mag. Es war eine Zeit, in der es Kolonien gab und Sklaverei, in welcher die Industrialisierung in Europa mit aller Macht voranschritt, eine Zeit, in der sich das Bürgertum als politische Kraft formierte.
Die Erforschung fremder Kulturen, Sprachen und unbekannter Weltgegenden durch die Humboldt-Brüder führte zweifellos zu einer Erweiterung des Blicks und schenkte uns viele neue Erkenntnisse über die großen und komplexen Zusammenhänge. Gleichwohl betrachteten sowohl die Humboldts als auch die Menschen, welche von diesen neuen Entdeckungen durch Publikationen und Vorträge unterrichtet wurden, diese neuen wissenschaftlichen Entdeckungen immer aus einer eurozentrischen Perspektive. Wie hätte es seinerzeit auch anders sein können?
Es ist die Aufgabe unserer Zeit, diesen Blickwinkel endlich zugunsten eines gleichberechtigten und wirklich kosmopolitischen Blickwinkels zu verlassen. Auch die Humboldt-Brüder hatten im Rahmen der eng gesetzten Möglichkeiten ihrer Zeit darauf hingewiesen, für einen post-eurozentrischen Blick war die Zeit noch lange nicht reif.
Wenn wir von der wissenschaftlichen Erforschung und von Entdeckung der Welt sprechen, so meint dies im Kontext des 19. Jahrhunderts auch gleichzeitig die Eroberung und wirtschaftliche Ausbeutung dieser Welt. Die Industrialisierung und die kapitalistische Gesellschaftsordnung begannen gerade damit, ihre Turbinen mit aller Kraft anzuwerfen. Die Kolonien waren nicht nur strategische Außenposten einer globalen Aufteilung der Welt mit militärischen Mitteln, sondern vor allem gigantische exterritoriale Lager an Bodenschätzen und nicht selten auch an Menschenmaterial. Die Abschaffung der Sklaverei begann zwar mit der Französischen Revolution, doch während der Lebenszeit der Humboldt-Brüder wurde sie noch in vielen Teilen der Welt, vor allem in den weit entfernten Kolonien, praktiziert.
Das frühe 19. Jahrhundert war aber auch eine Zeit des Aufbruchs. Mit der Französischen Revolution verband vor allem das Bürgertum die Hoffnung auf neue Freiheiten und Möglichkeiten individueller wie gesellschaftlicher Entfaltung. Es entwickelten sich neue Kommunikationsformen und neue Freiheiten für ständeüberwindende Beziehungen. Es war die Zeit der Lesegesellschaften, der Salons und der offenen Beziehungen, in denen sowohl politische als auch kulturelle und literarische Themen, aber auch wissenschaftliche Entdeckungen diskutiert wurden.
Hierbei spielten weder religiöse Überzeugungen oder das Geschlecht noch Fragen der Herkunft eine vornehme Rolle; es galt das Prinzip der Kommunikation auf Augenhöhe. Neben den Salons und Gesellschaften war vor allem der intellektuelle Austausch in Briefen das bevorzugte Medium der „Gelehrtenrepublik“ oder, wie wir heute sagen würden, der „Science Community“.
In den Exponaten der Ausstellung (und somit auch in diesem Bildband) begegnen uns die Humboldt-Brüder und ihr „Kosmos“ auf eine sehr direkte, materielle Weise. Die Objekte aus dem Alltagsleben und aus ihren Forschungsarbeiten ermöglichen dem Leser/Betrachter einen zwar mittelbaren, aber dank der hervorragenden erklärenden Beschreibungen der Objekte umso intensiveren Kontakt mit diesem außergewöhnlichen Bruder-Paar.
Die beiden Kunsthistoriker Bénédicte Savoy und David Blankenstein haben nun für diese Ausstellung im DHM versucht, das Wirken der Humboldts neu zu bewerten und es aus der Perspektive eines modernen und zeitgemäßen Geschichtsverständnisses neu zu interpretieren. Das Ergebnis ist ebenso beeindruckend wir spannend. Die meisten Leser dieser Rezension werden die Ausstellung der physischen Exponate in Berlin nicht besucht haben. Das ist zwar schade, aber kein Beinbruch, denn dieses knapp 300 Seiten dicke Buch geht mit seinen klugen Beiträgen und wundervollen Illustrationen weit über den Rahmen der Ausstellung hinaus.
Hiermit soll keineswegs die Bedeutung von musealen Ausstellungen kleingeredet werden! Doch der Besuch einer Ausstellung ist eben in der Regel ein einmaliges Erlebnis (im doppelten Sinne): Die allermeisten Besucher gehen nur einmal hin, das Erlebnis verblasst sehr schnell, und am Ende bleibt nur noch die diffuse Erinnerung an einen schönen Tag im Museum.
Eine solche Publikation jedoch, wie wir sie hier als Begleitband zur Ausstellung in den Händen halten dürfen, bietet eine Fülle an zusätzlichen und weiterführenden Informationen, welche neben dem eigentlichen Thema der Ausstellung noch eine Unmenge an spannenden Nebenthemen und interessanten Aspekten liefern, die zu weiteren Nachforschungen inspirieren und den Leser (im positiven Sinne!) vom Hölzchen aufs Stöckchen bringen. Wer also hier so richtig in die Materie eintaucht und sich mit dem Leben und der Zeit der Humboldts beschäftigen möchte, der kann in diesem Selbststudium immer weiter forschen und zu neuen Erkenntnissen gelangen, die sein Leben bereichern und ihn im besten Sinne „bilden“ werden. Das hätte den Humboldt-Brüdern sicherlich gut gefallen, und auch die Herausgeber dieses wunderbaren Buches werden wohl nichts dagegen haben, wenn ihre Texte den Leser zum Nachdenken und weiteren Nachforschen anregen.
Autor: David Blankenstein, Bénédicte Savoy u.a. (Hg.)
Titel: „Wilhelm und Alexander von Humboldt“
Taschenbuch: 304 Seiten
Verlag: wbg Theiss
ISBN-10: 3806240469
ISBN-13: 978-3806240467
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