Blixa Bargeld: „Europa kreuzweise. Eine Litanei“
Am: | April 15, 2009
Christian Emmerich ist wie ich Berliner und mit Jahrgang 1959 nahezu im gleichen Alter. In den späten 1970er Jahren wurde aus ihm (nach wundersamer Verwandlung und in Anlehnung an die Dadaisten, die damals in West-Berlin sehr en Vogue waren) „Blixa Bargeld“ und Frontmann der „Einstürzenden Neubauten“. Mit seinen „Neubauten“ produzierte er jenen organisiert-chaotischen Lärm, den man später „industrial“ nannte und der seinerzeit viele erfolgreiche Bands wie z.B. Depeche Mode u.a. beeinflusste.
Kurz und gut: Blixa Bargeld war für mich kein unbeschriebenes Blatt: Neubauten, Nick Cave & the Bad Seeds und andere Avantgarde-Projekte ließen mich Blixa gedanklich in einer Schublade ablegen mit der Aufschrift: „provokant / chaotisch / Avantgarde“. Umso überraschender (und für das eigene Vorurteilsdenken lehrreich) war die Lektüre des Buches „Europa kreuzweise. Eine Litanei.“, das im österreichischen ResidenzVerlag erschienen ist.
Auf den ersten Blick ist das Buch ein „Tour-Tagebuch“, das Blixa Bargeld auf der Europa-Tournee seiner Band nach Erscheinen der CD „Alles Wieder Offen“ (2007) führt. Auf den zweiten Blick nimmt uns der Autor jedoch mit auf eine lange und anstrengende Reise kreuz und quer durch Europa, von Lissabon bis Moskau, von Neapel bis Budapest bis Athen, von Oslo bis nach Paris.
Auf dem Backcover-Foto sieht Blixa aus wie immer – schwarze Klamotten, zorniger Blick à la André Breton oder Picabia und eigenwillig verschnittene Frisur, bei der immer wieder lange Haarsträhnen von rechts tief ins Gesicht fallen.
Und doch lernt der Leser einen neuen, anderen Blixa kennen: Der Autor entpuppt sich als Kenner und Liebhaber kulinarischer Genüsse und als passionierter Museumsbesucher. Die akribische Protollierung des stereotypen Ablaufs einer Tournee mit ihren immer gleichen (und nur selten variierten) Setlists der Konzerte und den endlosen Busfahrten zum nächsten Auftrittsort gibt dem Leser eine Idee von der sterbenslangweiligen Routine eines solchen Popmusiker-Daseins. Von wegen tolles Leben! Von wegen rauschende Nächte und zügellose Parties! – „Ein freier Tag ist ein Reisetag“, vermerkt Bargeld lakonisch. Schließlich muss der nächste Auftrittsort erreicht und die nächste musikhungrige Meute befriedigt werden.
Im Bus, im Zug, im Flugzeug wird gefahren, gelesen, geschrieben und gewartet. Das Reisen als Wartezeit. Immer wieder derselbe Bus, dieselben mitreisenden Bandmitglieder, dieselbe Umgebung. Und am Ziel wartet schon dasselbe Programm vor einem meist austauschbaren Publikum. Dieselben immer gleich aussehenden Hotels, Zimmer-Service, Minibar, Bett zu weich.
Und so bleiben: die Museen und Sammlungen, die liebgewordenen alten Bekannten, dieselben Kunstwerke und manche Neuentdeckung. Und natürlich die im Zuge jahrelanger Recherche entdeckten Restaurants auf dieser „Tournee de Culinaire“: Blixa Bargeld schwärmt vom „Cracco“ in Bologna, gibt Empfehlungen für eine kulinarische Topadresse in Kopenhagen („Noma“), verspeist mit dem Leser Herings-Variationen in Helsinki, Ziegenkäse mit Sauerkirschen in Budapest und Safran-Risotto in Paris. Wenn man das liest, bekommt man Appeitit und reist in Gedanken mit – kreuz und quer durch Europa.
Blixa Bargeld gelingt es, dem Leser sowohl die stupide Routine des Tournee-Alltags als auch das angenehme Gefühl zu vermitteln, dass man sich, egal wie und wohin man sich „kreuzweise“ durch Europa bewegt, immer in einer kulturellen Sicherheitszone gefangen bzw. aufgehoben wissen darf, in der an kulturellen Highlights und kulinarischen Verlockungen kein Mangel herrscht, wenn man sich gut auskennt, Freunde hat und einen offenen Blick für das Neue und Unbekannte.
Dann kann man bei aller Nerverei und trotz aller Strapazen, die eine solche Europa-Tour mit sich bringt, zusammen mit dem Autor bekennen: „I love Europe“.
Titel: Europa kreuzweise – eine Litanei
Autor: Blixa Bargeld
Broschiert: 128 Seiten
Verlag: Residenz
ISBN: 3701715009
EAN: 978-3701715008
Tags: blixa bargeld > einstürzende neubauten > europa > kulinarisches > Musik > mussen > tournee > wirklichkeit