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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Jörg Magenau: „Bestseller — Bücher, die wir liebten — und was sie über uns verraten“

Am: | März 29, 2018

Was sind Bestseller? Wer liest sie? Warum kaufen wir besonders gerne und oft die Top Ten der Bestsellerlisten? — Diese und viele andere Fragen behandelt Jörg Magenau in seinem gleichnamigen Buch Bestseller, das im Frühjahr 2018 bei Hoffmann und Campe erschienen ist.

Natürlich könnte der Autor jetzt einfach die Verkaufslisten der in Deutschland meistverkauften Buchtitel der letzten 60 Jahre zur Hand nehmen und sie dem Leser präsentieren. Doch Magenau will mehr. Er ist fest davon überzeugt, dass diese Bestsellerlisten mehr über uns aussagen, als dass wir diesen oder jenen Titel besonders häufig gekauft haben. „Der Buchmarkt ist ein Spiegelbild all dessen, was sich ereignet Jahr für Jahr. Er zeigt, was uns umgibt und wie reich an Möglichkeiten die Wirklichkeit ist.“

Aus diesem Grund lässt der Autor in den meisten Fällen die fremdsprachigen Titel weg und beschränkt sich auf deutschsprachige Originaltitel: „Die Auswahl, die sich schließlich ergab, ist ganz und gar subjektiv.“ Vor allem aber beschränkt sich der Autor in erster Linie auf deutschsprachige Titel. Natürlich spielen hierzulande auch und vor allem internationale Titel eine große Rolle, denken wir nur an die Harry Potter-Romane oder an Shades of Grey. „Doch ohne sie zu vernachlässigen, stehen trotzdem andere Bücher im Fokus, die, als spezifisch deutsch, mehr aussagen über uns, die hiesige Leserschaft.“

Denn genau darum geht es Jörg Magenau: Er möchte nicht nur einfach einen munteren Ritt durch die Bestsellerlisten der vergangenen 60 Jahre liefern, sondern er ist davon überzeugt, dass diese Bestsellerlisten sich auch lesen lassen als ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft, ihrer Sorgen, Wünsche und Ängste.

Jörg Magenau studierte Philosophie und Germanistik, war einer der Gründer der Wochenzeitung Freitag und lebt und arbeitet seit 2002 als freier Autor in Berlin; er schreibt unter Anderem für die taz und die FAZ, die Süddeutsche Zeitung und den Deutschlandfunk.

In seiner klugen und sehr schön zu lesenden Studie reflektiert der Autor auch den Vorgang des Lesens als eine Beschäftigung, die einerseits jeder ganz für sich betreibt, die ihn andererseits in eine virtuelle Gemeinschaft aller Leser einschließt, sobald er einen Text, ein Buch, in die Hand nimmt. Für Richard David Precht sind „Lernen und Genießen […] das Geheimnis eines erfüllten Lebens“, und so wird das Lesen zu einer lustvollen Betätigung.

„Ein gutes Buch ist wie ein guter Freund. […] Es ist das Gegenüber, an dem wir wachsen und lernen. Wir Leser. Ein flüsterndes, nächtliches Gespräch entsteht zwischen ihm und uns, eine so starke wie geheimnisvolle Bindung. […] Was sich im Lesen ereignet, ist etwas anderes als bloßer Wissenstransfer. Jedes Wort, jeder Satz schillert in seiner Bedeutungsvielfalt. […] Gerade literarische Texte […] gehen niemals in einer Deutung auf. Jeder Text ist größer als das darin Gemeinte.“

Lesen befördert die Veränderung, ja mehr noch: sie macht sie in vielen Fällen erst möglich. Indem wir lesen, öffnen wir uns dem Text gegenüber, und wir lassen zu, dass er uns berührt:
„Lesend werden wir eine Andere, ein Anderer. Und wenn wir in unsere eigene Existenz zurückkehren, könnte es sein, dass wir uns unterdessen verändert haben. Auch so lässt sich ein Liebesverhältnis begreifen.“ Denn Lesen ist eine dem Lieben verwandte Tätigkeit, die von uns fordert, dass wir bereit sind, uns zu öffnen und uns von dem geliebten Buch/Menschen verändern lassen zu wollen.

„Ein Bestseller ist das Resultat einer merkwürdigen Verschiebung. In ihm verschmilzt der einsame Vorgang des Lesens zu einem massenhaften Ereignis.“ Womit wir nach diesem kleinen schwärmerischen Exkurs über das Lesen endlich wieder beim eigentlichen Thema, dem Bestseller, angelangt sind. Schon Siegfried Kracauer attestierte in den 1920er Jahren dem Bestseller, er sein ein „Beweis dafür, dass wieder einmal eine Mischung von Elementen gelungen ist, die dem Geschmack der anonymen Lesermassen entspricht“.

So weit, so klar. Die Frage ist nur, welche Elemente man da zusammenmischen muss, um einen Bestseller zu schreiben? Sex und Crime sind es nicht ausschließlich, das wäre zu einfach, und wir sehen anhand der vielen, vielen schlechten Kriminalromane, dass diese simple Formel nicht stimmen kann.

Jörg Magenau weiß es natürlich besser, schließlich hat er sich eingehend mit dem Phänomen der deutschen Bestseller befasst: „Bestseller sind keine isolierten Ereignisse. Sie stehen in vielfältigen gesellschaftlichen Bezügen und Abhängigkeiten. Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt […] im Zusammentreffen von Buch und Leser und einem gemeinsamen Dritten, auf dem sie beruhen: Das ist der historische Boden, auf dem wir stehen.“

Je weiter man in Magenaus spannend geschriebenen Buch liest, desto deutlicher wird die Tatsache, dass sich die Bestsellerlisten in der Rückschau als ein faszinierendes Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen Befindlichkeiten dechiffrieren lassen. Mit anderen Worten landen auf den obersten Plätzen dieser Listen demnach vor allem jene Titel, die unsere Ängste und Sehnsüchte am besten bedienen: in den 1950er Jahren der Wunsch nach einer Flucht aus der grauen bundesrepublikanischen Nachkriegs-Realität, in den 1960er Jahren die Faszination des technologischen Fortschritts, in den 1970er Jahren die großen Utopien und das gewachsene Umweltbewusstsein usw.

Doch der Autor weist zurecht darauf hin, dass zum einen jene Titel, die auf den obersten Plätzen landen, nicht unbedingt auch gelesen werden; vieles kauft „man“ ja, weil es so erfolgreich ist und weil man mitreden möchte; auf diese Weise befeuert eine Bestsellerliste immer auch aus sich selbst heraus den Abverkauf jener Spitzentitel. Zum anderen kann die „Bedeutung eines Buches, seine bewusstseinsprägende Kraft […] durch die bloße Verkaufszahl nicht wiedergegeben werden.“ Es gibt auch einflussreiche Titel, die eben keine hohen Verkaufszahlen erreichen und deshalb nicht in diesen Listen auftauchen, obwohl sie eine „bewusstseinsprägende Kraft“ auf ihre Leserschaft (und damit auf die Gesellschaft) ausüben.

Vor einigen Jahren hat Karin Liebenstein an der Uni Erlangen eine interessante Studie vorgelegt, in der sie die Bestsellerautoren in der Zeit von 1962 bis 2001 in Deutschland untersuchte. Zu einem „Bestsellerautor“ wurde nach ihrer Ansicht ein Autor, wenn er mindestens fünf Platzierungen mit unterschiedlichen Titeln in den Jahres-Top-Ten aufweisen konnte. Da wird die Luft ganz schön dünn; für Deutschland kamen nur noch neun Autoren in diesen engen Zirkel, in chronologischer Reihenfolge: Heinrich Böll, Günter Grass, Johannes Mario Simmel, Siegfried Lenz, Ephraim Kishon, Isabel Allende, Rosamunde Pilcher, John Grisham und Donna Leon. Also genau genommen, sind es sogar nur vier deutsche Autoren, und spätestens seit den 1980er Jahren haben die deutschen Autoren dieses Feld komplett den internationalen Autoren überlassen.

Wozu und wem dienen aber nun eigentlich solche Listen mit den meistverkauften Büchern? „Ordnung, Orientierung, Auswahl, Beschränkung auf das Wichtigste, Steuerung der Aufmerksamkeit“ sind für Jörg Magenau die wichtigsten Funktionen solcher Bestsellerlisten. Darüber hinaus geben Listen das „metaphysische Versprechen, die Welt ließe sich systematisch erfassen und in ihren Einzelteilen in Relation zueinander bringen.“ Natürlich ist das nur ein frommer Wunsch, der unserer täglichen Überforderung durch das Chaos um uns herum geschuldet ist.

Als die Wochenzeitung Die Zeit 1957 eine erste Liste der Verkaufsschlager auf dem deutschen Buchmarkt einführte, waren die Meinungen noch sehr ambivalent. Viele sahen in der Bestsellerliste nicht weniger als den „Sündenfall des Geistes in den Markt“; aber praktisch waren diese Listen fortan als Orientierungshilfe allemal.

Was oben auf der Liste steht, ist absolute Massenware. Es ist alles Andere als exquisit, sondern spiegelt wider, was uns beschäftigt bzw. wo mit wir uns beschäftigen. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Buchgestaltung selbst. Nicht selten ist ein markiger Titel, ein ansprechendes Cover oder eine schöne Druckqualität neben der Positionierung in den oberen Rängen der Listen schon ein ausreichender Kaufanreiz. Hierin unterscheiden sich Bücher in keiner Weise von Klamotten, Plüschtiere oder Nippes. Was hübsch präsentiert wird und vorne liegt, ist neu und spricht die Käufer besonders stark an.

Indem wir die Bücher der Bestsellerlisten kaufen und lesen, nehmen wir an der großen Erzählung unseres eigenen Lebens teil. Wenn es stimmt, dass der jeweils aktuelle Zustand einer Gesellschaft und das, was wir als wahr und wirklich empfinden, das Ergebnis eines permanenten gegenseitigen Erzählens ist, wenn also unsere Wirklichkeit das Ergebnis einer gesellschaftlichen Konstruktion und somit das Resultat ihres Narrativs ist, dann sind die jeweils aktuellen Bestseller ein interessanter Gradmesser für jene Befindlichkeiten, mit denen wir in jener Zeit zu tun hatten und haben.

Dies ist letztlich auch die zentrale These, welcher Jörg Magenaus Untersuchung der Bestsellerlisten zugrundliegt. Ihre Ergebnisse geben einen interessanten Aufschluss über den Zustand unserer Gesellschaft aus diachronischer Sicht.

Doch Literatur kann noch mehr: Sie ist auch in der Lage, Gegensätzlichkeit auszuhalten und Widersprüche zu integrieren. Vor allem im Roman werden uns fiktive Welten beschrieben, die — oftmals anders als unsere Realität — die Möglichkeit bieten, Grenzen zu überschreiten und Gegensätze aufzuheben: „Bestseller zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestehende gesellschaftliche Widersprüche integrieren und in einer Figur lebbar machen.“

Literatur „soll die Wirklichkeit abbilden, so getreu wie möglich, und zugleich offen sein für unsere Träume und Sehnsüchte. […] Das Fremde soll sie uns zeigen, aber bitte so, dass es uns vertraut erscheint. Das Unwahrscheinliche soll sie möglich machen.“ Dies gelingt natürlich längst nicht nur den Bestseller-Romanen — und diesen vielleicht auch eher selten. Gleichwohl sind die Bestseller vor allem eines: massenhaft verkaufte (und hoffentlich auch gelesene) Bücher, die immer auch ein Spiegel unserer Zeit und unserer Wirklichkeit sind, auf der anderen Seite aber auch sehr deutliche hinweise darauf geben, worüber gerade gesprochen wird und was gerade auf der Agenda unserer gesellschaftlichen Entwicklung steht.

Jörg Magenaus Buch ist eine wertvolle und lustvolle Lektüre für alle, die gerne lesen. Wer sich darüber hinaus auch noch mit dem gesellschaftlichen Phänomen des Literaturbetriebs interessiert, ist mit diesem Buch bestens beraten. Obwohl es hier immer wieder um Verkaufszahlen geht und um die Vermarktung von literarischen Texten und Sachbüchern, so wird die Tatsache des Warencharakters des Buchs hier nicht kritisiert. Denn unser Buchmarkt ist immer auch beides: einerseits ein Marktplatz für die Ware Buch und andererseits die materiale Basis eines jeden intellektuellen Austauschs in unserer Zeit.

 

 

Autor: Jörg Magenau
Titel: „Bestseller — Bücher, die wir liebten — und was sie über uns verraten“
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
ISBN-10: 3455503799
ISBN-13: 978-3455503791

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