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Karlheinz Stierle: „Text als Handlung“

Am: | September 13, 2012

Karlheinz Stierle versteht sein Werk als die Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, die vor allem auf Max Webers Handlungstheorie fundiert. Stierles Buch erschien erstmals 1975 – in einer Zeit also, als sich die Performativität der Sprache einer besonderen Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler erfreute:

John Austins „How to Do Things with Words“ (1962), das Hauptwerk seiner „Sprechakttheorie“, war gerade drei Jahre zuvor erstmals auf Deutsch erschienen, und John Searles „Speech Theory“ (1969) würde erst 1983 in deutscher Übersetzung vorliegen.

Der performative Charakter von Sprache (und auch der Texte) faszinierte die Literaturwissenschaft, und die Idee vom „Text als Handlung“ wurde zu einer ganz neuen Sichtweise beim theoretischen Umgang mit Texten.

Somit war es naheliegend, dass der Text als Handlung auch direkt von den Theorien der Handlung (Handlungstheorien) berührt würde, wie sie seinerzeit in der Philosophie und Sozialwissenschaften diskutiert wurden.

Max Webers individualistische Handlungstheorie besagt, dass das soziale Handeln als Äußerung vergesellschafteter Menschen betrachtet wird, die in ihrem Kern individualistisch ist. Anders als Durkheim, der einen kollektivistischen, oder Tönnies, der einen materialistischen Ansatz vertritt, geht Weber von der individualistischen Freiheit des Menschen aus, sein Tun oder Unterlassen selbst zu bestimmen.

Übertragen auf den literarischen Text als Element der Performativität betont Stierle gleich am Beginn seiner Einleitung, dass sich Rede und Sprache wechselseitig aus einem engen hermeneutischen Zirkel voraussetzen, dass also die Rede die Sprache und Sprache die Rede voraussetzt. Diese enge Verbindung ist das Grundgerüst der Performativität und die Voraussetzung für den Text als Handlung.

Unter der Charakterisierung „Text als Handlung“ kann sich auch der literaturwissenschaftliche Laie etwas vorstellen, doch an dieser Stelle sei ganz klar gesagt, dass Stierles Abhandlung sich ausschließlich an ein akademisches Fachpublikum richtet und dementsprechende Fachkenntnisse voraussetzt. Der interessierte Laie wird den Inhalt von „Text als Handlung“ kaum verstehen.

Karlheinz Stierle ist Jahrgang 1936, Romanist und Literaturwissenschaftler. Seine berufliche Laufbahn führte ihn zunächst in den 1960er Jahren nach Gießen und Konstanz, bevor der von 1969 bis 1988 an der Ruhr-Universität Bochum als Professor für Romanische Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft wirkte. 1988 wurde er der Nachfolger von Hans Robert Jauß an der Universität Konstanz, an der er bis zu seiner Emeritierung 2004 wirkte.

Die Konstanzer Schule war unter Jauß der Rezeptionsästhetik verpflichtet, die als Teil der Literaturtheorie der Frage nachgeht, ob die gedankliche und emotionale Wahrnehmung künstlerischer Werke bereits im Werk selbst angelegt sind oder erst im Prozess der Rezeption entstehen. Jede Rezeption ist eingebettet in einen spezifischen Erwartungshorizont.

In seiner Abhandlung, die nun in einer neuen, veränderten und erweiterten Auflage den Text von 1975 aktualisiert, untersucht Stierle zunächst die Grundelemente des Textes als Handlungstheorie ein: Sprechsituation, Kontext und Sprachhandlung. Im zweiten Abschnitt stehen Figurationen sekundärer Bedeutung im Mittelpunkt: Unterschiedliche Konnotationen und die sekundäre Semantik von Metaphern werden an dieser Stelle genauer betrachtet.

Stierle entwickelt im folgenden Abschnitt die Grundlinien einer Theorie der Beschreibung. Im Gegensatz zum Nacheinander und der Temporalität des Narrativen geht die Beschreibung von der Gleichzeitigkeit des Ganzen und seiner Teile aus. Hierbei stellt sich jedoch sogleich die Frage nach den Anfangs- und Endpunkten einer Beschreibung. Die Dynamik der Narration muss „in den Dienst der Zuständlichkeit der Beschreibung“ gestellt sein.

In den beiden letzten Abschnitten beschreibt der Autor die einzelnen Bauformen des Narrativen anhand von klassischen Beispielen (Hebel, Kleist) und beschäftigt sich mit dem Drama und der Theorie der Handlung im Zusammenhang mit klassischen Beispielen der französischen Literatur.

Stierles Abhandlung „Text als Handlung“ ist auch in seiner neuen und erweiterten Auflage ein interessantes Fachbuch der Literaturwissenschaft. Ob sie auch als die Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft verstanden werden kann, kommt darauf an, welche Bedeutung man der handlungstheoretischen Komponente eines Textes zuweist. Die Performativität eines Textes wurde erst in den 1960er Jahren wirklich entdeckt und ist seitdem der Gegenstand zahlreicher Theorien und wissenschaftlicher Untersuchungen. Aber die Performativität ist eben nur ein Aspekt unter vielen, wenn auch ein wichtiger.

Karlheinz Stierle hat mit der Neuauflage seines Werkes „Text als Handlung“ diesen Aspekt wieder mehr ins Bewusstsein der literaturwissenschaftlichen Forschung gerückt. Welche Auswirkungen das auf die Systematisierung der Literaturwissenschaft haben wird, wird sich zeigen.

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Autor: Karlheinz Stierle
Titel: „Text als Handlung“
Gebundene Ausgabe: 363 Seiten
Verlag: Wilhelm Fink
ISBN-10: 3770552641
ISBN-13: 978-3770552641

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