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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Matthias N. Lorenz: „Literatur und Zensur in der Demokratie“

Am: | September 9, 2010

Die aktuelle Diskussion um das jüngst erschienene Buch „Deutschland schafft sich ab“ des (mittlerweile ehemaligen) Bundesbank-Vorstandsmitglieds und langjährigen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin lässt beim unvoreingenommenen Beobachter die Frage aufkommen, wie weit es mit der viel gepriesenen freien Meinungsäußerung in Deutschland her ist.

Sarrazins absichtlich zugespitzte und polemische Äußerungen zur Sozialproblematik und der deutliche Angriff gegen unsere ausländischen Mitbürger verfolgen den Zweck, so behauptet Sarrazin selbst, eine öffentliche Werte-Diskussion anzustoßen, in der es um die Zukunft unserer Gesellschaft geht. Ob dies wirklich der einzige Zweck ist, den Sarrazin mit diesem Buch verfolgt, oder ob es nicht auch um mediale Aufmerksamkeit und ein wenig körperliche Wärme im Licht der Scheinwerfer geht, muss unbeantwortet bleiben.

Jedenfalls hat Sarrazin schon vor dem Tag der Veröffentlichung sein Ziel verfehlt. Das Buch rief bislang nicht zur erstrebten Debatte auf, sondern führte zu einem Eklat. Die Presse hat sich unisono das Maul zerrissen – oftmals ohne das Buch gelesen zu haben, wie man vermuten darf.

Allen voran zerrten die großen Boulevard-Zeitungen Thilo Sarrazin auf die Anklagebank, was zunächst verwundert; denn Sarrazins Thesen zur genetisch veranlagten minderen Intelligenz der Ausländer kommen der Marschrichtung dieser Zeitungen doch eigentlich recht nahe; dann jedoch versteht man, dass es in den Redaktionen dieser Blätter bei der Frage, ob der Daumen nach oben oder nach unten zeigen soll, allein um populistische Richtungsentscheidungen geht: Wir schreiben, was die Mehrheit denkt, damit die Mehrheit unsere Zeitungen kauft, in denen sie lesen kann, was sie denket und denken soll.

Der „Fall Sarrazin“ wird in die Mediengeschichte der Bundesrepublik eingehen als ein weiterer Beweis für die Tatsache, dass unsere Demokratie längst nicht so frei von Zensur ist, wie wir es gerne hätten. Noch bevor Sarrazins Buch erschien, wurden Stimmen laut, seine Veröffentlichung zu verbieten. Die einen sprachen von „biologistischen“ Äußerungen, die anderen machten ihre Kritik vor allem am blasierten und alle Kritik ignorierenden Auftreten von Sarrazin fest.

Spannender als die Frage nach den Inhalten von Sarrazins neuem Buch wäre die genaue Untersuchung jenes voreilenden Zensur-Gehorsams der breiten Öffentlichkeit. Erstaunlich einig war sich das Volk, dass der Mann seinen Hut nehmen müsste – zunächst flog er achtkantig bei der Bundesbank raus; das innerparteiliche Ausschlussverfahren gegen ihn läuft zurzeit noch, doch es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch bald seine SPD-Parteimitgliedschaft los sein wird.

Auf diese Weise übt die Öffentlichkeit (aber wer ist das eigentlich, die Öffentlichkeit?) Zensur aus, ohne genau über den zensierten Gegenstand Bescheid zu wissen. Auf diese Weise ist man jedoch den Querulanten, den Andersdenkenden, schneller los und braucht sich auch nicht mehr um die eigentliche Diskussion zu kümmern, die mit dem Buch angestoßen werden sollte. Dieses Vorgehen ist sehr effizient, medienwirksam und auch noch praktisch. Man sägt einen unbequemen Fragensteller und Provokateur ab und entledigt sich gleichzeitig der Mühsal einer öffentlichen Diskussion um brisante Themen.

Dieses Verfahren ist nicht neu. Es hat eine jahrzehntelange Tradition in Deutschland zunächst in der Diktatur der Volksverhetzer und dann unter der Diktatur des Proletariats. Eigentlich geht es bei der Zensur von Kunst immer darum, unerwünschte Inhalte von den Lesern, Zuschauern, Zuhörern fern zu halten. Dies verfolgt den Zweck, das (oft durch mühsame Kleinarbeit gesteuerte und im eigenen Sinne aufgebaute) öffentliche Meinungsbild zu bewahren, anstatt durch neue, unkonventionelle oder gar subversive Gedanken- und Meinungsäußerungen stören zu lassen.

Die Geschichte der Zensur von Literatur in der Demokratie hat jetzt Matthias N. Lorenz von der Universität Bielefeld eingehend untersucht. Obwohl der Titel des vorliegenden Buches verspricht, sich mit der Zensur „in der Demokratie“ zu beschäftigen, muss der Autor weiter ausholen, um den Begriff der literarischen Zensur genauer definieren und im historischen Kontext verankern zu können.

Also beginnt die Geschichte der Zensur bereits im monarchistischen Kosmos der zeit der Aufklärung, wandert über die Karlsbader Beschlüsse und die deutsche Märzrevolution 1848, von Kaiser Wilhelm über die Weimarer Republik und das Dritte Reich, bis wir dann auf Seite 49 endlich in der Bonner Bundesrepublik angekommen sind.

Fast trotzig beginnt Lorenz sein Buch mit dem Zitat des Artikels 5 unseres Grundgesetzes: „Eine Zensur findet nicht statt.“ – Schön wär’s.

Matthias N. Lorenz zeigt in zahlreichen Fallbeispielen, wie Zensur auch in der Demokratie stattfindet: Der Skandal um Jean Genets Roman „Notre-Dame-des-Fleurs“ wird hier ebenso genannt wie Günter Grass’ „Katz und Maus“ und F.C. Delius’ Buch „Unsere Siemens-Welt“ sowie viele weitere Beispiele. Zensur hat, wie gesagt, eine lange Tradition.

Bei ausgeübter Zensur geht es im Grunde immer um das Tabu-Dreieck Pornographie, Gewaltverherrlichung und Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Wer sich als Autor in dieses Spannungsfeld begibt, kann sich einerseits einer gesteigerten Aufmerksamkeit der Medien erfreuen, muss gleichzeitig allerdings auch immer mit empfindlichen Sanktionen rechnen – vonseiten des Verlags oder der Politik. Der potentielle Leser wird jedoch durch den ausgelösten Medien-Hype erst richtig angeheizt und neugierig gemacht: Was muss das für ein interessantes Buch sein, wenn solch ein Wirbel darum gemacht wird?

Seit einigen Jahren hat sich zu den drei Tabus (Pornographie, Gewalt und Persönlichkeitsrecht) noch ein weiterer Tabubereich gesellt, der alles andere zu überstrahlen droht: die „political correctness“. Unter zu Hilfenahme dieses Schlagworts kann man alles totschlagen, was einem nicht passt. Was ist denn „politisch korrekt“? Was soll das eigentlich heißen? Und wer entscheidet, was voll korrekt, gerade noch korrekt oder gar nicht mehr korrekt ist? – Ist ein Lobpreis auf die deutsche Kernenergie korrekt? Oder wäre (aus moralischen, menschlichen, Umwelt orientierten Gründen) eine literarische Verurteilung und Ächtung der Kernenergie nicht korrekter? – Die Entscheidung der Korrektheit liegt immer im Auge des Betrachters. Und wer die macht hat, besitzt auch die Kraft und das Stimmrecht, seine Meinung als allgemeingültig durchzusetzen. – Nach dem Motto: Selbstverständlich dürfen Sie Ihre Meinung frei äußern – solange Sie meiner Meinung sind.

Aber Zensur findet nicht nur vonseiten der Obrigkeit statt, sondern auch in unseren Köpfen. Wir arbeiten ein Leben lang an unserem individuellen Meinungsbild, dem wackligen Gerüst unserer eigenen Meinungen und Überzeugungen. Hierzu benötigen wir immer die Unterstützung von außen; das Korrektiv, das bislang Ungedachte, Provozierende und die Änderung unserer Einstellungen Verlangende, ist eher unbeliebt.

Matthias N. Lorenz hat ein interessantes Buch über ein wichtiges und gern verdrängtes Thema geschrieben: die Zensur in der Demokratie. Über dieses Thema zu diskutieren, wäre wichtiger und fruchtbarer als eine Diskussion über Thilo Sarrazins Provokationen zum Bildungsniveau in Deutschland und der Unterwanderung der deutschen Kultur durch Menschen mit Migrationshintergrund.

Autor: Matthias N. Lorenz
Titel: „Literatur und Zensur in der Demokratie“
Taschenbuch: 214 Seiten
Verlag: UTB, Stuttgart
ISBN-10: 3825232662
ISBN-13: 978-3825232665

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