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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Miriam Meckel: „Brief an mein Leben – Erfahrungen mit einem Burnout“

Am: | August 29, 2010

 Miriam Meckel ist eine sehr erfolgreiche, junge Frau, Anfang vierzig. Sie studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft, Jura und Sinologie; sie promovierte über das europäische Fernsehen, war ein Jahr Regierungssprecherin des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, später Staatssekretärin für Europa, Internationales und Medien, und seit 2005 arbeitet sie als Professorin für Corporate Communications an der Universität St. Gallen.

Nach jahrelangem Dauerstress im Beruf und im Privatleben und einem darauf folgenden körperlichen und seelischen Total-Zusammenbruch ging gar nichts mehr. Es folgte eine erzwungene Auszeit mit Klinikaufenthalt von über einem Jahr.

Eigentlich sollte man vermuten, dass gerade eine Kommunikationswissenschaftlerin wie Frau Meckel ihr Kommunikationsverhalten im Griff und eine optimale Kommunikationsstrategie für ihr eigenes Arbeits- und Privatleben hat. Aber es gibt einen Unterschied zwischen brillantem, analytischem Betrachten und praktischem Umsetzen.

Nach ihrer Rückkehr ins normale Leben hat sie ihre Lebensweise geändert: Der Blackberry ist abgeschafft, telefoniert wird nur selten, sie kommuniziert meist über E-Mails, um nicht gleich wieder in die Falle der permanenten Erreichbarkeit zu tapsen.

Sie möchte sich in ihren Arbeitsabläufen nicht immer wieder von außen unterbrechen lassen. Ruhe ist ihr wichtig geworden. Das Arbeitstempo hat sich deutlich verlangsamt, und auch die Gleichzeitigkeit der Arbeitsvorgänge versucht Meckel zu vermeiden.

Das Phänomen Burnout ist nicht neu. Galt es anfangs noch als schicke, moderne Schwester der guten alten Depression, ist das Burnout-Syndrom heute als eigenes Krankheitsbild anerkannt. Obwohl es sich um ein ernstes Problem handelt, hat man manchmal den Eindruck, ein ärztlich attestiertes Burnout gehört als Beweis für eine erfolgreiche Karriere in manchen Kreisen fast schon zum guten Ton.

Das (überstandene) Burnout wird dann lediglich zu einem weiteren Statussymbol des Erfolgsmenschen wie das klimaneutrale Haus am Stadtrand, der brandneue Audi A8, die gesellschaftsfähige Ehefrau und genetisch einwandfreie Mutter, die hochbegabten Kinder und das sechsstellige Jahreseinkommen.

Doch Burnout ist keine Modekrankheit, sondern ein ernste gesundheitliches Problem, das als ein Symptom für unsere überbeschleunigte und zeitoptimierte Lebensweise gelten darf.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts regte man sich über das Tempo der Eisenbahnen auf und fürchtete schwerste gesundheitliche Konsequenzen; heutzutage droht dem gehetzten Menschen ein Burnout.

Sind wir vielleicht noch nicht reif für diese unmittelbare und temporeiche Kommunikation? Werden wir in zwanzig, dreißig Jahren darüber lachen, dass wir Anfang des 21. Jahrhunderts derartige Probleme mit unserem Kommunikationsverhalten hatten?

Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Tatsache ist jedoch, dass ein steigender Anteil der Bevölkerung unter psychischen Belastungszuständen leidet, die durch ein zu hohes Tempo verursacht werden. Viele fühlen sich dem dauerhaften Druck nicht mehr gewachsen und entwickeln körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen oder nervöse Störungen.

Wenn wir nicht selbst auf unsere Lebensweise achten und bewusst einen Kontrapunkt setzen zum äußeren Trend eines immer schnelleren Tempos und der permanenten Erreichbarkeit, dann laufen wir Gefahr, krank zu werden und „auszubrennen“. Das gilt für den Top-Manager wie für den Busfahrer, für die Hausfrau und Mutter wie für den sozial engagierten Rentner, für den Oberschüler wie für den Hartz-IV-ler mit drei Mini-Jobs.

Miriam Meckel hat einen Brief an ihr Leben geschrieben. Es ist eigentlich mehr ein Journal ihrer Zeit in der Klinik und ihrer Gedanken, eine Art Tagebuch aus einer schweren Zeit.

Bei einer flüchtigen Lektüre könnte man den Eindruck erhalten, hier würden Belanglosigkeiten und persönliche Befindlichkeiten herunter geschrieben, die den Leser nicht interessierten. In der Mitte des Buches schreibt die Autorin: „Manchmal, immer wieder sogar frage ich mich, was meine Situation zu bedeuten hat, wie sie bewertet werden kann durch mich selbst, aber auch, wie sie durch andere interpretiert wird.

Man könnte jetzt das Buch zur Seite legen und denken, was interessiert es mich? Aber erst im Ganzen, bei vollständiger Lektüre mit einem wachen Geist und einem transzendierenden Lesen erschließt sich dem Leser die ganze Kraft von Meckels Buch.

Erst wenn man sich ganz auf den Text und auf die beschriebene Situation einlässt, erkennt man den Wert dieser Selbstanalyse.

Wir stehen in unserer heutigen Zeit alle mehr und mehr unter Druck. Die Beschleunigung der Arbeitsprozesse, das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit, die permanente Erreichbarkeit und der soziale Druck einer an Erfolg und Geschwindigkeit orientierten Gesellschaft führen bei einem steigenden Prozentsatz der Bevölkerung zu Abnutzungserscheinungen.

Burnout ist kein Modewort für die Volkskrankheit Depression. Die Symptome des Burnouts sind anders, oftmals komplexer. Wer seine Lebensweise von den technischen Hilfsmitteln diktieren lässt, die uns heute zur Verfügung stehen – Internet, Mail, Handy, IPhone und Blackberry -, lauft Gefahr, sich selbst zu verlieren und sowohl Körper als auch Seele im Multitasking seiner Aufgaben aufzureiben.

So betrachtet, sind wir alle die Zielgruppe für Miriam Meckels Buch. Es gibt regalweise Veröffentlichungen zum Burnout, Tipps zu seiner Vorbeugung und Bewältigung, aber Miriam Meckels „Brief an mein Leben“ hebt sich wohltuend von dieser Armada an Selbsthilfebüchern ab. Sie will nicht dozieren, sie will auch keine guten Tipps aus ihrer mentalen Hausapotheke geben; sondern sie beschreibt einfach ihren eigenen Weg, bringt ihre eigenen Gedanken zu Papier und durchläuft somit stellvertretend für jeden von uns den Weg zur eigenen Genesung, zurück ins eigene Leben – in ein neues, entschleunigtes Leben.

Das Buch beginnt: „Ich stehe am Fenster. Im Zimmer ist es dunkel. Draußen auch. Langsam kommt das erste diffuse Licht. Über der Landschaft liegt ein dicker Nebel. Ich kann nicht einmal die nahen Hügelketten erkennen, geschweige denn die Gebirgszüge der Alpen in der Ferne.

Das ist nicht nur eine Beschreibung der äußeren Welt, sondern gewährt dem Leser den Blick ins Innere der Autorin. Wenn kurz vor dem Zusammenbruch gar nichts mehr geht und nach dem Zusammenbruch nur noch Erschöpfung, Blindheit und Taubheit folgen, so ist das Wiedererwachen der Sinne wie das langsame Auftauchen aus den Tiefen eines Meeres – oder eben wie das erste diffuse Licht nach einer tiefschwarzen Nacht.

Ganz langsam zeigen sich im diffusen Grau die ersten, schwachen Konturen der Dinge, zuerst ganz nah. Das, was direkt vor einem liegt, wird wieder erkennbar, erst später, viel später zeigt sich auch das in der Ferne Liegende, das Ganze.

„Brief an mein Leben“ sei allen ans Herz und auf den Nachttisch gelegt, die sich im Beruf aufreiben und das Gefühl haben, der (selbst gewählten!) permanenten Überanspannung bald schon nicht mehr standhalten zu können.

Wer mehr über die Autorin und ihren Weg aus dem Burnout erfahren möchte, schaue sich neben der Lektüre auch das eindrucksvolle, einstündige Gespräch mit ihr in den „Sternstunden Philosophie“ des Schweizer Fernsehens (August 2010) an.

Autor: Miriam Meckel
Titel: „Brief an mein Leben – Erfahrungen mit einem Burnout“
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Rowohlt, Reinbek
ISBN-10: 3498045164
ISBN-13: 978-3498045166

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