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Francine Prose: „Völlerei – Die köstlichste Todsünde“

Am: | Februar 17, 2010

Zu früh, zu erlesen, zu gierig, zu teuer.“ So umriss Papst Gregor im 6. Jahrhundert die Sünde der Völlerei. Heute verbinden wir eigentlich nur noch „zu viel“ und „zu gierig“ mit dieser Todsünde. – Aber ist es nicht veraltet und übertrieben, hier von einer Todsünde zu sprechen?

Während in früheren Jahrhunderten Leibesfülle stolz und selbstbewusst zur Schau getragen und das Ausrichten von Festmahlen und Schlemmereien als ein Zeichen von Reichtum angesehen wurde, hat sich diese Symbolik in unserer modernen, westlichen Kultur in ihr komplettes Gegenteil verwandelt.

Wer heute dick und rund ist, vernachlässigt seinen Körper, gehört, statistisch gesehen, eher der Unterschicht an und verbringt den Großteil seines Tages auf der Couch. Als direkte Folge seiner körperlichen Maßlosigkeit ruiniert er seine Gesundheit und belastet damit gleichzeitig das solidarische System der gesetzlichen Krankenkassen.

Die Diskussion über die Einführung einer „Fettsteuer“ auf fett machende Lebensmittel, die direkt jene übergewichtige Problemgruppe betreffen würde, die sich bevorzugt von ungesunden Lebensmitteln ernährt, ist die deutliche Antwort des Staates auf den asozialen Umgang solcher Individuen mit dem eigenen Körper.

Wer heutzutage wirklich reich, schön und gesund sein will, schleift seinen Körper regelmäßig im Fitness-Studio, hält strenge Diät und lebt ein durch und durch asketisches Leben. Erzählte man dies einem Menschen des Mittelalters, so schüttelte er den Kopf über solch eine verkehrte Welt.

Diese modischen Richtlinien und überzeichneten Klischees gelten überall in der westlichen Welt, vor allem aber in Amerika, wo die Autorin zusammen mit etwa 63 Millionen übergewichtigen Menschen lebt.

Francine Prose ist eine amerikanische Schriftstellerin aus New York, und sie hat einen schönen und schlauen Essay über die Völlerei geschrieben, der im vergangenen Herbst im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen ist.

Gesundheitsbewusstsein und eine auf Tod fixierte Kultur haben die Völlerei von einer Sünde, die andere Sünden nach sich zieht, in eine Krankheit verwandelt, die andere Krankheiten nach sich zieht.

Es klingt zunächst paradox, unsere heutige Kultur der Diesseitigkeit und das Bild einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten mit einer „auf den Tod fixierten Kultur“ zu umschreiben. Jedoch verfolgt der ganze Schlankheits- und Fitnesswahn bei genauerer Betrachtung am Ende nur zwei Ziele: der Endlichkeit des eigenen Lebens nicht ins Auge schauen zu müssen und den verzweifelten Versuch, den Zeitpunkt des eigenen Todes wenigstens ein wenig nach hinten zu verschieben.

Gesundheit und Fitness sind die Götzen unserer Zeit, die an die Stelle des Glaubens und der Hoffnung auf ein ewiges Leben getreten sind. Sie haben längst nicht die Kraft der christlichen Werte und sind nur auf die Akzeptanz in der Gruppe und die möglichst gelingende Bewältigung unserer Gegenwart gerichtet, bieten aber keinen Aufprallschutz für das Lebensende.

Diese Erkenntnis ist nicht neu; aber man versteht die allgegenwärtige Fixierung unserer Kultur auf Gesundheit und Schönheit besser, wenn man diese Phänomene im Spiegel ihres philosophischen Kontextes betrachtet.

Früher war die Völlerei eine Todsünde, weil sie ganz schnell zu Wollust und Lasterhaftigkeit führte. Indem man dem übermäßigen Essen frönte und bereitwillig den eigenen Schlund öffnete, hatte man durch dieses Verhalten automatisch auch anderen Sünden Tür und Tor geöffnet.

Letztlich war die Völlerei jedoch immer ein privates Laster gewesen, das den Einzelnen befiel und in die ewige Verdammnis schickte. Heute jedoch ist Völlerei nicht nur zu einer ernsthaften Krankheit geworden, sondern zu einem politischen Problem.

Wer der Völlerei anheim fällt, handelt zutiefst asozial, weil er anderen Menschen das Essen weg futtert. Die Begrenztheit unserer Nahrungs-Ressourcen und ihre ungleiche Verteilung spielen direkt hinein in unsere Wahrnehmung der maßlosen Fresserei. Völlerei ist also in hohem Maße politisch-inkorrekt.

Wer den von unserer Kultur festgelegten, erbarmungslosen Körpernormen nicht entspricht, leidet nicht nur unter dem Gefühl von Schuld und Kontrollverlust, den Problemen von diversen Essstörungen und natürlich den tatsächlichen Gesundheitsrisiken, sondern auch unter den mehr oder weniger schweren Beleidigungen, denen man als Opfer institutionalisierter Vorurteile und Diskriminierungen beinahe ständig ausgesetzt ist.

Wer gerne isst und fett ist, hat wirklich nichts zu lachen in einer auf Schlankheit und Stromlinienförmigkeit fixierten Gesellschaft. Dicke werden gemobbt und ins soziale Abseits gestellt. In Internet-Foren und Selbsthilfe-Gruppe abgeschoben, können sie nur noch unter Ihresgleichen wenn nicht Anerkennung so doch Mit-Leid finden. Es ist ein Leben am Rande einer dem Diät-Ideal verpflichteten Gesellschaft.

Francine Prose wandert in ihrer Studie über die Völlerei an Kunstwerken der Malerei des Mittelalters und der Neuzeit entlang und bietet dem Leser sowohl einen historischen als auch soziologischen Abriss der Geschichte der Völlerei. Ihre kreative Annäherung an das komplexe Thema liest sich spannend und unterhaltsam.

Wir erfahren eine Menge über den Wandel der Schönheitsideale quer durch alle Epochen der Weltgeschichte von der Antike bis heute und somit auch eine Menge über unsere eigene Definition von Schönheit und Hässlichkeit, von Tugendhaftigkeit und Sünde.

Ein schöner, kurzer Essay von nur 92 Seiten, die es jedoch in sich haben.

Autor: Francine Prose
Titel: „Völlerei – Die köstlichste Todsünde“
Taschenbuch: 112 Seiten
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
ISBN-10: 380312624X
ISBN-13: 978-3803126245

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