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Irina Liebmann: „Stille Mitte von Berlin – Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt“

Am: | Oktober 29, 2009

Irina Liebmann: "Stille Mitte von Berlin - Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt"Straßen können Geschichten erzählen und Geschichte erfahrbar machen. Dieser Ansicht ist auch die Autorin Irina Liebmann, die im damaligen Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, auf Spurensuche nach der Vergangenheit ging.

Es war im Jahr 1982, als sie sich unter all den Straßen des alten Berliner Stadtviertels am Hackeschen Markt, zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße gelegen, die Große Hamburger Straße als Ort für ihre Spurensuche auswählte.

Damals dachte ich, wenn man nur die Geschichte einer einzigen dieser Straßen recherchieren würde, könnte man einen Roman über unsere Zeit schreiben, einen Roman darüber, wie das alles gekommen ist, was unser Leben in dieser zeit ausmachte: der Krieg und die Grenzen. Es war 1982, als ich zu recherchieren begann. Ich wählte die Große Hamburger Straße, sie erschien mir besonders interessant. Alle Gespräche, die ich führte, alle Fotos und Tagebuchnotizen waren als Material für diesen Roman gedacht, der nie geschrieben wurde. Dieses „Material“ wurde mir im Laufe der Jahre zu schwer, es ist mir entglitten, oder ich bin ihm davongelaufen. Ich packte all die Tagebücher, Karteikarten, Baupläne in Kartons und rührte sie nicht wieder an. Als ich die Kisten nach zwanzig Jahren öffnete, sah ich zuerst die Fotos. Die abgeschrammten Häuser auf den Bildern verströmten die Zeit von damals, und genauso war es mit meinen Notizen. Unser Leben rutschte da raus, dieses nicht sehr hoch geschätzte Leben in dem Berliner Osten der achtziger Jahre.

Heraus kam dieser schöne Fotoband mit Bildern aus den frühen 1980er Jahren. – Schöne Bilder? Was ist schön an alten, nach heutigen Maßstäben halb eingefallenen Häusern?! Und mehr noch stellt sich auch die Autorin selbst die Frage: „Was fasziniert eine junge Frau an Straßen, die alt, eng, dunkel und sämtlich von vorgestern sind?

Es ist eine Bestandsaufnahme. Dokumentarisch und nüchtern, und dennoch sprechen die Bilder den Betrachter an. Irina Liebmann beschreibt in ihrem Essay, der die erste Hälfte des 110 Seiten starken Buches einnimmt, wie ihre Fantasie durch die alten, halb verblichenen Ladenschilder und Beschriftungen an den Häusern angeregt wird.

Im Laufe des Essays stellt sie Auszüge aus ihren Recherchen über die ehemaligen Bewohner der Großen Hamburger Straße vor. Sie hatte sich alte Adressbücher von Berlin besorgt und ging dann mit dem Auszug des Adressbuches von 1943 zu den alten Bewohnern der Straße. Die erzählen über ihre ehemaligen Nachbarn. Immer wieder sind es Juden, von denen berichtet wird und die traditionell stark in diesem armen Stadtviertel vertreten waren.

Augenzeugenberichte. Erzählte Geschichte. Dabei reflektieren sie aber auch die eigenen Erfahrungen der Autorin in den frühen 80er Jahren in Ost-Berlin. Irina Liebmann setzt die alten Erzählungen sowohl in Bezug zu den damals aktuellen Zeitungsmeldungen der DDR-Presse als auch zu anderen relevanten Aufzeichnungen aus den letzten zwei Jahrhunderten.

Auf diese Weise entstand mit diesem Essay ein spannender, ortsnaher Text über eine Straße, ein Wohnviertel und über einen Abschnitt deutscher Geschichte. Daraus hätte auch ein interessanter Zeitroman werden können. Dass Irina Liebmann spannende Geschichten erzählen und gut schreiben kann, hat sie in mehreren Romanen und Erzählungen bewiesen. Vielleicht kann sich die Autorin ja doch noch dafür erwärmen, ihre Recherchen aus den 1980er Jahren zu einer Geschichte zu verarbeiten. Aus der zeitlichen Distanz heraus ist dies eventuell sogar besser möglich.

Auf jeden Fall hat Irina Liebmann mit ihrem Buch über die „Stille Mitte von Berlin“ und den zahlreichen Fotos der seinerzeit alten, menschenleeren Straßen, in denen sich heute vor allem junge Menschen in Cafés, Boutiquen und Galerien tummeln, ein spannendes Zeitdokument abgeliefert, das mehr als einen Blick wert ist.

 

Autor: Irina Liebmann
Titel: „Stille Mitte von berlin – EIne fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt“
Gebundene Ausgabe: 112 Seiten
Verlag: Berlin Verlag
ISBN-10: 3827008778
ISBN-13: 978-3827008770

 

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