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Jean Ziegler: „Der Hass auf den Westen“

Am: | September 11, 2009

Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen - Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren"Jean Ziegler ist ein „Agent Provocateur“, aber nicht um einfach nur zu provozieren, sondern immer um der Sache willen. In seinem neuen Buch „Der Hass auf den Westen“ geht es um die Frage, wie der Westen auf das neue Selbstbewusstsein des Südens antworten wird. Es geht um nicht weniger als um die Frage nach Krieg oder Frieden.

Jean Ziegler ist Bürger der Republik Genf, emiritierter Professor der Universität Genf und ein weltweit anerkannter Soziologe, der sich mit aktuellen Fragen der internationalen Politik beschäftigt. Seit 2008 ist er Mitglied des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. Wohin seine internationalen Aufgaben ihn auch führen, immer wieder stößt Jean Ziegler auf die tiefe Feindschaft, die die Völker des Südens denen des Westens entgegenbringen.

Er ergründet die Motive und historischen Wurzeln dieses Hasses und sucht nach Mitteln, ihn zu besiegen. Die Überwindung dieser Kluft ist für viele Millionen Menschen auf der Welt zu einer Überlebensfrage geworden; sie sind auf die Unterstützung durch westliche Hilfsorganisationen und eine langfristige Lösung der Ernährungsfragen ihrer Länder angewiesen.

Über viele Jahrhunderte hat der Westen die Länder und Völker des Südens rücksichtslos ausgebeutet und umgebracht. Die Genozide an der indianischen und lateinamerikanischen Urbevölkerung und die Ausbeutung in Afrika und Asien durch Kolonialisierung und Sklaverei haben das kollektive Gedächtnis der Völker des Südens nachhaltig geprägt.

Der Westen, das waren zunächst die Menschen aus dem Okzident, dann die Christen, dann die Kolonialisten, die Weißen. Heute kann eine Unterscheidung nach Rasse, Glaubenszugehörigkeit oder Lebensraum nicht mehr so einfach gezogen werden. Und so schließt sich Jean Ziegler dem Definitionsversuch des bekannten französischen Historikers Fernand Braudel an: „Der Westen definiert sich im Wesentlichen über seine Produktionsweise, den Kapitalismus. Der ist mehr denn je seinem Traum von der globalen Eroberung verhaftet.

Der Westen ist also ein Synonym für das kapitalistische Wirtschaftssystem, das wir vor allem in den westlichen Industrienationen in den USA und in Europa finden. Und in der Tat machen es die großen internationalen Konzerne heute immer noch vor, wie man die natürlichen Ressourcen des Südens ausbeuten kann und dabei die Menschenrechte außer Acht lässt. – Beispiel: Nigeria.

In Nigeria regiert seit 1966 ein totalitäres Militärregime, das den überwiegenden Teil seiner Bevölkerung in bitterste Armut verzweifeln lässt, während eine kleine Führungsclique mit Hilfe der internationalen Ölkonzerne Texaco, Shell, Exxon, Chevron, Agip, BP und anderen den schier unermesslichen Reichtum an Rohstoffen des Landes zum eigenen Vorteil nutzt.

Diese unheilvolle Allianz aus westlichen Wirtschaftsinteressen und den egoistischen Interessen einer unterdrückenden Führungsschicht hat zu einer unvergleichbaren Korruption in Nigeria geführt. Korruption ist jedoch kein Kavaliersdelikt, als die man sie vielleicht in westlichen Ländern betrachtet. Im Süden führt Korruption dazu, dass die Infrastruktur nicht mehr funktionsfähig ist. Versorgungsstrukturen, Krankenhäuser und Transportwege existieren nicht mehr und stürzen den Großteil der Bevölkerung ins Verderben. Korruption tötet.

Ende 2006 wurden in Nigeria Wahlen abgehalten. Sieger wurde der muslimische Gouverneur des nördlichen Bundesstaats Katsina, Umaru Yar’Adua, zum neuen Präsidenten gewählt. Es war ein offensichtlicher Fall von massivem Wahlbetrug, und die neue Militärjunta kam trotz starker Proteste des Westens ins Amt.

Im Sommer 2007 fand in Heiligendamm unter der deutschen Schirmherrschaft das G-8-Treffen statt. Angela Merkel wollte auch den Tagesordnungspunkt „Hunger“ auf die Agenda setzen, und so sollte ein Ehrengast aus Afrika eingeladen werden, um die Versammlung vollständig zu machen. Als einziger Vertreter der schwarzafrikanischen Staaten wurde Umaru Yar’Adua, der neue nigerianische Diktator, eingeladen. Dieser Affront wurde nicht nur von westlichen Medien kritisiert, sondern wurde vor allem in Nigeria von oppositionellen Kreisen als eine „Ohrfeige“ Angela Merkels empfunden.

Wieder einmal hatte der Westen seine Doppelzüngigkeit unter Beweis gestellt. Gern sieht sich der Westen als Anwalt und weltweiter Verteidiger der Menschenrechte. So setzt man sich in Weltregionen wie Darfur im Westen Sudans für den Schutz der Zivilbevölkerung und die Beendigung des Konflikts ein. Doch wenn es in einem Land wie Nigeria massive wirtschaftliche Interessen des Westens gibt (Ölindustrie), dann nimmt man es mit den Menschenrechten nicht so genau, schaut lieber weg und lässt die Bevölkerung in den Klauen einer Militärjunta.

Es ist diese Doppelzüngigkeit des Westens, die ihn für die Länder des Südens immer wieder unglaubwürdig macht. Die fehlende Aufarbeitung der eigenen Schuld in den Jahrhunderten der Vernichtung und Ausbeutung des Südens durch den Westen ist die andere Last, mit der der Westen zunehmend konfrontiert wird.

Im kollektiven Bewusstsein der Völker des Südens haben sich diese Erlebnisse eingebrannt. Sie kommen erst jetzt nach einer langen Phase der Traumatisierung langsam ins Bewusstsein zurück und verändern die Haltung des Südens gegenüber dem Westen. Das verletzte Gedächtnis der Völker des Südens führt zu einem neuen historischen Widerstand gegen den Westen.

Die westliche Haltung der rein an gegenwärtigen Fragen orientierten Verteidigung der Menschenrechte in manchen Teilen der Welt und ihrer gleichzeitigen punktuellen Nichtbeachtung, wo lieber wirtschaftlichen Eigeninteressen der Vorrang gegeben wird, wird von den Völkern des Südens zunehmend als westliche Arroganz empfunden. Der westliche Ethno-Zentrismus, der über viele Jahrhunderte das eigene Denken als „global-verbindlich“ bestimmte und damit dem Rest der Welt seine Werte und Grundsätze aufdrückte, hat ausgedient.

Der Westen muss umdenken und dialogfähig werden. Er kann sich nicht weiter hinter einer breit gestreuten Entwicklungshilfe und dem Aufbau von Wirtschaftsstrukturen in bestimmten Ländern beschränken. Dies spürte auch vor einiger Zeit Frankreichs Präsident Sarkozy am eigenen Leib, als er an der Universität in Dakar zur afrikanischen Jugend sprechen wollte. Es kamen viele westafrikanische Studenten zu dieser Veranstaltung und forderten eine Aufarbeitung und eine Entschuldigung für die Greueltaten während der französischen Kolonialzeit.

Sarkozy ging zum Angriff über und rief: „Jugend Afrikas, ich bin nicht gekommen, um von Reue zu sprechen.“ – Es kam zu Tumulten, und Sarkozy redete sich um Kopf und Kragen. Kein Wort von Folter, Versklavung, von den Massakern an der Zivilbevölkerung, sondern Beschwörungen wie: „Das Drama Afrikas liegt darin, dass der afrikanische Mensch noch nicht genügend in die Geschichte eingetreten ist.

Das Bild, das der französische Staatspräsident von „dem Afrikaner“ hat ist ein zutiefst vom westlichen Ethno-Zentrismus geprägtes Bild. Hier die fortschrittlichen westlichen Führungsnationen, dort die rückständigen und hilfsbedürftigen Länder des Südens.

Doch der Süden bricht immer öfter mit diesem vom Westen oktroyierten Kräfteverhältnis. Mit dem Süden sind jedoch nicht nur die Afrikaner gemeint; es geht auch um die Völker in Lateinamerika und Asien, die die westliche Führungsrolle in Frage stellen. Jean Ziegler führt in seinem Buch den bolivianischen Staatspräsidenten Evo Morales Ayma als Beispiel einer solchen Entwicklung an. Nach über 500 Jahren gibt es mit Morales in Bolivien wieder ein indianisches Staatsoberhaupt, und er wurde vom Volk demokratisch gewählt. Der Aufbau der Infrastruktur und der wirtschaftliche Aufschwung, den Bolivien seit der Wahl von Evo Morales Ayma erlebt, ist nach westlichen Maßstäben bescheiden, aber für lateinamerikanische Verhältnisse bemerkenswert.

Wir befinden uns in einer Zeitenwende. Die von der Vernunft geleiteten Kräfte in den Länder des Südens stellen ihre berechtigten Forderungen nach einer gewissenhaften und selbstkritischen Aufarbeitung der kollektiven Schuld durch den Westen. Mit den extremistischen Flügeln dieser kritischen Bewegung haben wir bereits bei den Anschlägen am 11. September 2001 in New York und ähnlichen Terrorakten machen müssen.

Will der Westen eine Eskalation mit dem Süden vermeiden, so muss er schnellstens umdenken, seine ethno-zentrische Sichtweise aufgeben und den Diskurs mit dem Süden suchen. Diese Impulse können nur aus der Politik kommen, denn die Wirtschaft verfolgt andere Interessen.

Um der Politik ein echtes Gegengewicht zu der Macht der Konzerne zu verleihen, braucht sie die breite Unterstützung durch die Zivilgesellschaft.

Hierzu muss man jedoch erst einmal die Gesellschaft informieren und ein (Schuld-)Bewusstsein schaffen, das die Politik zum Handeln auffordert. – Diese Informationen möchte Jean Ziegler mit seinem neuen Buch vermitteln.

Jean Ziegler schreibt in einer klar verständlichen Sprache. Obwohl die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas einen dicken Wälzer hätte hervorbringen können, hat sich der Autor auf ein gut lesbares Buch mit nur 280 Seiten Umfang beschränkt. Dies ist allerdings prall gefüllt mit teilweise schockierenden Fakten, die den Leser aufrütteln. Nur so kann eine breite Öffentlichkeit in den Diskussionsprozess eingebunden und für die weit reichenden Folgen dieser Problematik sensibilisiert werden. Dies ist dem Autor mit diesem Buch auf hervorragende Weise gelungen.

Ein Buch, das unsere Sicht auf den Süden verändern wird.

 

Autor: Jean Ziegler
Titel: „Der Hass auf den Westen – Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren“
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag
ISBN-10: 3570011321
ISBN-13: 978-3570011324

 

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