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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Martin Seel: „Theorien“

Am: | September 8, 2009

Martin Seel: "Theorien"Martin Seel hat ein seltsames Buch geschrieben:

1 Buch,
2 Buchdeckel und
517 Theorien auf
256 Seiten.

Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, und er darf das.

Doch Martin Seel ist nicht nur ein Mitglied des akademischen Lehrkörpers, dem man a priori eine gewisse Affinität zu theoretischen Konstrukten zugestehen wollte, sondern er schreibt auch regelmäßig für DIE ZEIT und die Neue Rundschau.

Mit seinem Buch legt er einen zugleich philosophischen und literarischen Versuch vor. Anstatt dem Leser eine einzige, große Theorie vorzuführen und ihn dann von deren Richtigkeit überzeugen zu wollen, wählt er einen anderen Weg:

Er versammelt in diesem Buch viele kleine Theorie, die er wie kurze Aphorismen aneinander reiht. Die kurzen Absätze umfassen oft nur einen oder wenige Gedankengänge, Schlussfolgerungen oder Fragen, die Martin Seel wie eine Hand voller Blütenblätter dem Leser entgegen streut und ihn damit verzaubert.

Sehr lyrisch kommen die Gedanken oft daher, und an dem Autor scheint auch ein Romantiker verloren gegangen zu sein – aber was heißt verloren? Nehmen wir nur den Einführungstext auf der Rückseite des Buches:

In einigen Weltgegenden gibt es Fähren, für die man ein Ticket lösen kann, das den Passagieren bis zum Verlassen des Schiffs beliebig viele Hin- und Herfahrten erlaubt, vermutlich um ihnen Gelegenheit zu geben, in der Kantine etwas mehr Geld zu lassen. Manche nutzen das, um allein oder in Gesellschaft stunden- oder tagelang im Strom des Vergehens zu verweilen. So ein Ticket ist auch die Philosophie. Sie lässt uns für geringe Kosten bleiben, wo wir sind, aber in einer Bewegung, die uns dahin mitnimmt, wohin wir früher oder später zurückkehren müssen.

In Berlin gibt es bei der S-Bahn eine Ringbahn, die immer im Uhrzeigersinn oder in entgegen gesetzter Richtung im Kreis fährt. Wenn es nicht mal wieder technische Probleme gibt, die zum Ausfall des halben Schienennetzes führen, kann man also morgens in diese Bahn einsteigen und bis zum Betriebsschluss immer im Kreis fahren. Eine volle Umrundung dauert ungefähr eine Stunde.

Wenn man sich dann noch mit Martin Seels Buch bewaffnet, kann man diesen oben beschriebenen Idealzustand eines Bewegtseins ohne eigene Bewegung stilgerecht in die Tat umsetzen. Natürlich kann man dieses Buch aber auch an jedem anderen Ort lesen; aber man sollte Ruhe haben und keine Ablenkung durch Andere. Denn die hierin versammelten Theorie haben es in sich.

Es sind die klassischen Themen der menschlichen Selbstverständigung, mit denen sich der Autor in seinen „Theorien“ beschäftigt: Leben und Tod, Krankheit, Schönheit, Wissen und Freiheit, Religion und Musik. Die Lektüre kann von vorne nach hinten, von links nach rechts oder einer geheimen, nur dem Leser bekannten Numerologie folgend vollbracht werden.

Martin Seels Buch in einem Rutsch zu lesen, macht keinen Sinn. Es ist ein Buch, mit dem Sie lange zu tun haben werden, wenn Sie es richtig lesen.

 

Autor: Martin Seel
Titel: „Theorien“
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Fischer (S.), Frankfurt
ISBN-10: 310071010X
ISBN-13: 978-3100710109

 

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