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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Florian Illies: „Wenn die Sonne untergeht — Familie Mann in Sanary“

Am: | Oktober 31, 2025

Florian Illies hat mit Wenn die Sonne untergeht — Familie Mann in Sanary ein Buch geschrieben, das zugleich Familiendrama, Exilstudie und Sommeridylle ist. Im Mittelpunkt steht der Sommer 1933, in dem Thomas und Katia Mann mit ihren sechs Kindern im südfranzösischen Sanary-sur-Mer Zuflucht suchen. Der Ort ist sonnendurchglüht und doch von Bedrohung überschattet. Die Familie hat Deutschland verlassen, ohne zu wissen, ob sie je zurückkehren wird. Illies konzentriert sich auf diese drei Monate, auf das Leben im Übergang, auf das Schwanken zwischen Sicherheit und Verlust, auf die noch ungebrochene Routine des Familienalltags, die schon von der Ahnung der Katastrophe durchzogen ist.

Der Autor geht dabei nicht chronologisch oder dokumentarisch vor. Er erzählt in dichten Szenen, in Momentaufnahmen, die wie Fotografien wirken. Das Leben der Manns erscheint als ein Mosaik aus Streit, Sehnsucht und schöpferischem Trotz. Thomas Mann hadert mit dem Exil, seine Kinder rebellieren, Katia versucht, alles zusammenzuhalten. Die Sonne und das Meer, der Duft des Südens, die Musik des Sohnes Michael, die intellektuelle Unruhe von Klaus und Erika — all das wird mit leichter Hand zu einem sommerlichen Tableau verbunden, das zugleich heiter und melancholisch ist.

Florian Illies nähert sich dem Stoff mit dem Blick des Erzählers, nicht des Historikers. Er schildert die Familie Mann nicht als Denkmäler, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, mit Eitelkeiten, Wunden, Komik und Zärtlichkeit. Der Ton ist fein, fast beiläufig, gelegentlich ironisch, aber nie respektlos. Er lässt die Figuren atmen, zeigt ihre Schwächen, ihre Spannungen und ihre gegenseitige Abhängigkeit. Dadurch entsteht ein lebendiges Porträt, das näher ist als jede Biografie und doch respektvoll bleibt.

Diese Erzählweise ist typisch für Florian Illies. Wie schon in 1913 — Der Sommer des Jahrhunderts vertraut er auf Verdichtung statt Vollständigkeit. Er wählt kleine Ausschnitte, um das große Ganze zu erahnen. Die Hitze des Südens spiegelt die innere Spannung der Familie. Die Sonne steht für das Verlöschen einer Epoche. Das Meer bleibt still, während Europa brennt. Diese Bildhaftigkeit ist die größte Stärke des Buches. Illies beschreibt nicht, er evoziert. Seine Sprache ist rhythmisch, klar und leuchtend, getragen von einem Sinn für Ironie und Tragik zugleich.

Die wissenschaftliche Genauigkeit tritt hinter die erzählerische Absicht zurück. Illies arbeitet auf der Grundlage gesicherter Fakten, aber er sucht keine neuen Quellen und betreibt keine quellenkritische Forschung. Sein Buch ist keine akademische Studie, sondern eine literarische Annäherung an historische Wahrheit. Er deutet, er komponiert, er macht Geschichte erfahrbar. Das mögen ihm manche als Mangel auslegen, doch es ist gerade der Grund für die starke Wirkung seiner Bücher. Wo wissenschaftliche Darstellung nüchtern bleibt, schafft Illies Atmosphäre, enthebt historische Figuren der nüchternen Trockenheit einer abgeschlossenen Vergangenheit, macht sie wieder lebendig und ihr Handeln für die Leser nachvollziehbar.

Auf diese Weise entfaltet sich der Text wie ein Kammerspiel in südlicher Hitze. Alles scheint leicht, und doch liegt Schwere in der Luft. Man spürt die Unruhe, das Auseinanderdriften, die mühsame Harmonie der Familie. Thomas Mann bleibt der Mittelpunkt, aber er ist kein Übervater. Seine Kinder ringen um Nähe und Anerkennung, seine Frau bewahrt Haltung. In dieser Konstellation zeigt sich das Menschliche hinter der Legende.

Der Autor versteht es, Vergangenheit so zu erzählen, dass sie gegenwärtig wird. Sein Blick ist zugleich zärtlich und distanziert, sein Stil elegant und unaufdringlich. Er arbeitet mit Andeutungen, nicht mit Beweisen. Dadurch entsteht ein schwebender Ton zwischen Dokument und Dichtung. Man liest das Buch nicht, um Neues über die Familie Mann zu erfahren, sondern um sie noch einmal zu erleben — in jenem letzten Sommer, bevor die Sonne der alten Welt endgültig unterging.

Am Ende bleibt der Eindruck einer fein komponierten Erzählung, die mit leisem Humor, genauer Beobachtung und literarischer Intelligenz arbeitet. Illies schreibt nicht für Historiker, sondern für Leserinnen und Leser, die Geschichte als Schicksal erfahren wollen. Sein Buch wird vor allem jene ansprechen, die sich für die Familie Mann interessieren, aber auch für alle, die ein Gespür für das Flüchtige, das Elegische und das Schöne inmitten des Untergangs haben. Es ist weniger eine Studie als ein Stimmungsbild — und gerade darin liegt seine Wahrheit.

 

 

 

 

Autor: Florian Illies
Titel: „Wenn die Sonne untergeht — Familie Mann in Sanary“
Herausgeber: S. FISCHER
Seitenzahl: 336 Seiten
ISBN-10: 3103971923
ISBN-13: 978-3103971927

 

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