Judith Kessler: „Kann denn Liebe Sünde sein? — Auf den Spuren des Liedtexters Bruno Balz“
Am: | Oktober 31, 2025
Judith Kesslers Buch Kann denn Liebe Sünde sein? — Auf den Spuren des Liedtexters Bruno Balz ist mehr als eine Biografie. Es ist eine Wiederbegegnung mit einer Gestalt, die das deutsche Unterhaltungslied der 1930er und 1940er Jahre geprägt hat und zugleich zu jenen gehört, die die Geschichte in ihren Fußnoten verschluckt. Bruno Balz — der Mann, der Zeilen wie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ schrieb, die Zarah Leander unsterblich machte — lebte ein Doppelleben zwischen Glamour und Gefahr. Kessler erzählt von diesem Leben mit detektivischer Geduld, literarischer Einfühlung und einem ausgeprägten Sinn für die Ambivalenzen einer Epoche, in der selbst die schillerndste Melodie einen Schatten warf.
Bruno Balz wurde 1902 in Berlin geboren, jenem Ort, der ihm Heimat, Bühne und Bedrohung zugleich wurde. Schon früh zog es ihn in die Welt des Varietés und der Operette, in die leuchtenden Halbwelten, in denen Ironie und Sentiment so eng beieinander liegen. Als Textdichter machte er rasch Karriere, arbeitete später mit Komponisten wie Michael Jary zusammen und lieferte den Soundtrack zur deutschen Sehnsucht nach Glanz und Unbeschwertheit in dunkler Zeit. Doch Balz war homosexuell, und das machte ihn unter dem NS-Regime zu einem Gejagten. Mehrfach wurde er verhaftet, gedemütigt, beinahe vernichtet — und doch überlebte er, weil seine Lieder gebraucht wurden. Zarah Leander setzte sich für ihn ein, Goebbels persönlich ließ ihn aus dem KZ entlassen, damit er neue Durchhalte-Hymnen schreiben konnte. Nach 1945 wurde es zunehmend stiller um ihn, fast fiel er in Vergessenheit, lebte zurückgezogen und starb 1988.
Judith Kessler holt diesen Mann aus dem Schatten, aber sie tut es ohne die üblichen biografischen Eitelkeiten. Sie nähert sich ihm tastend, fragend, mit einem feinen Sinn für die Lücken und Schweigen, die das Leben Balz’ prägen. Ihr Buch ist weniger eine klassische Lebensbeschreibung als eine Spurensuche, ein literarisch durchdrungener Versuch, eine Stimme aus den Überresten von Dokumenten, Erinnerungen und Liedtexten wieder hörbar zu machen. Kessler schreibt, als wüsste sie, dass sie nicht alles wissen kann — und gerade diese Offenheit verleiht ihrem Buch eine stille Würde.
Die Autorin, selbst Historikerin und Publizistin, vermeidet die Versuchung, Balz zum Opfer oder Helden zu stilisieren. Stattdessen interessiert sie, wie jemand in einer totalitären Gesellschaft überleben konnte, ohne seine Kreativität zu verraten. Sie liest seine Texte als Dokumente einer doppelten Existenz — gefällig und gefährdet zugleich. Hinter der beschwingten Oberfläche seiner Refrains, so zeigt sie, verbirgt sich ein kompliziertes Spiel mit Andeutungen und Verschleierungen, das zwischen Anpassung und Widerstand changiert. Balz schrieb für die große Bühne, aber oft auch für die kleine Freiheit im Verborgenen.
Kesslers Sprache bewegt sich zwischen analytischer Präzision und essayistischer Leichtigkeit. Man spürt, dass sie sich dem Gegenstand mit Sympathie, aber nicht mit Sentimentalität nähert. Ihre Sätze haben Rhythmus, der sich manchmal fast musikalisch anfühlt — vielleicht eine Hommage an den Mann, dessen Leben sie beschreibt. Sie meidet den belehrenden Ton, setzt auf Andeutungen, auf atmosphärische Bilder, auf eine Sprache, die zwischen Archivstaub und Bühnenlicht vermittelt. Wenn sie Balz’ Texte zitiert, tut sie das mit Respekt und interpretatorischer Zurückhaltung. Sie liest sie nicht bloß als Schlager, sondern als kulturelle Zeugnisse, die die seelische Topografie ihrer Zeit widerspiegeln.
Was ihre Arbeit von vielen biografischen Unternehmungen unterscheidet, ist der unaufdringliche, aber konsequente historische Rahmen. Die Autorin verschränkt persönliche und politische Geschichte, ohne in didaktische Erklärungen zu verfallen. Sie lässt die Mechanismen der NS-Kulturpolitik sichtbar werden, ohne dass ihr Buch zu einer Abhandlung darüber würde. Zugleich beleuchtet sie die Widersprüche der Nachkriegszeit, in der Balz’ Kunst zwar weiterlebte, sein Name aber verschwand. Dass sie diese Leerstelle nicht nur benennt, sondern auch nachempfindbar macht, ist eine ihrer größten Leistungen.
In der wissenschaftlichen Sorgfalt steht Kesslers Buch über den meisten populärhistorischen Arbeiten zu ähnlichen Themen. Sie belegt ihre Befunde mit Quellen, zitiert zeitgenössische Dokumente, wertet Akten und Briefe aus, und doch wirkt das alles nie trocken oder museal. Wissenschaft dient ihr als Fundament, nicht als Selbstzweck. Ihre Genauigkeit geht Hand in Hand mit einem feinen moralischen Gespür. Sie weiß, dass sich Geschichte nicht nur in Fakten, sondern in Zwischentönen ereignet — gerade dann, wenn sie von Menschen wie Balz handelt, die sich an der Grenze zwischen Anpassung und Aufbegehren bewegten.
Was ihr gelingt, ist die Rehabilitierung eines Künstlers, ohne ihn zu verklären. Balz erscheint weder als tragischer Märtyrer noch als zynischer Opportunist, sondern als Mensch, der in einer unmenschlichen Zeit seine Sprache suchte — und sie in der Musik fand. Kessler versteht, dass Kunst in Diktaturen selten eindeutig ist: Was auf den ersten Blick als Verführung wirkt, kann zugleich Überlebensstrategie sein. Und was als bloßer Schlager galt, war nicht selten viel subversiver, als den Zensoren bewusst war.
In ihrer Schlussbetrachtung deutet Kessler an, dass Balz ein Vorläufer jener Figuren ist, die in der Nachkriegszeit das queere Selbstbewusstsein langsam aus dem Schatten führten. Sie verweigert sich dabei jeder nachträglichen Heroisierung, lässt aber erkennen, dass sie in ihm einen Künstler sieht, dessen Werk und Lebensgeschichte ein anderes, komplexeres Bild des „deutschen Unterhaltungsgeistes“ zeichnen. Sie öffnet damit einen Raum, in dem Unterhaltung als Teil der Zeitgeschichte ernst genommen wird – als Seismograph gesellschaftlicher Spannungen.
Kesslers Buch ist zugleich eine kulturgeschichtliche Studie, eine Biografie und ein Plädoyer für das Erinnern. Sie zeigt, dass es gerade die scheinbar leichten Dinge sind — die Lieder, die Ohrwürmer, die Melodien —, in denen sich die tiefsten Brüche spiegeln. Ihre Herangehensweise ist essayistisch, empathisch und präzise zugleich. Wo andere mit Pathos argumentieren, vertraut sie auf den leisen Nachhall der Worte.
Am Ende bleibt ein vielschichtiges Porträt eines Mannes, der zwischen Anpassung und Authentizität seinen eigenen Ton fand. Kessler gelingt es, aus den verstreuten Spuren ein Ganzes zu formen, das Balz wieder eine Stimme gibt — eine, die auch in unserer Gegenwart noch zu hören ist, wenn irgendwo ein alter Schlager erklingt, dessen Melodie sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
Zusammengefasst ist Kann denn Liebe Sünde sein? eine kluge, feinfühlige und handwerklich exzellente Spurensuche, die historische Präzision mit literarischer Eleganz verbindet. Judith Kessler schreibt mit Sympathie, ohne die kritische Distanz zu verlieren, und lässt den Leser spüren, dass jede Form von Erinnerung auch eine Form von Verantwortung ist. Das Buch wird besonders jene interessieren, die sich für Kulturgeschichte des Dritten Reiches, für die Geschichte queerer Künstler, für die Mechanismen von Anpassung und Überleben in totalitären Systemen oder einfach für die Magie alter Lieder begeistern. Es ist ein Werk, das die Vergangenheit zum Klingen bringt — leise, aber nachhaltig.
Autor: Judith Kessler
Titel: „Kann denn Liebe Sünde sein? — Auf den Spuren des Liedtexters Bruno Balz“
Herausgeber: Nicolai Verlag
Seitenzahl: 200 Seiten
ISBN-10: 3964761419
ISBN-13: 978-3964761415
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