Marie-Luise von der Leyen: „Die Skandalösen — Frauen, die sich ihre Freiheit genommen haben“
Am: | Oktober 29, 2025
Marie-Luise von der Leyens Buch Die Skandalösen — Frauen, die sich ihre Freiheit genommen haben ist ein Werk, das von seiner Autorin mit sichtlicher Zuneigung für seine Protagonistinnen und einem feinen Sinn für Dramaturgie komponiert wurde. Es ist kein Lexikon weiblicher Lebensläufe, kein Kompendium über Emanzipationsgeschichte — vielmehr eine Folge von Miniaturen, sorgfältig poliert, doch nicht ohne Kanten. Von der Leyen stellt neun Frauen vor, die in sehr unterschiedlichen Zeiten lebten, aber eines gemein hatten: Sie widersetzten sich dem Erwartbaren, dem Vorgezeichneten, und sie taten es mit einer Entschiedenheit, die zu ihrer Zeit als Provokation empfunden wurde. Dass die Autorin sie „skandalös“ nennt, verrät dabei weniger über ihre Protagonistinnen als über die Gesellschaften, in denen diese sich bewegten.
Die Autorin wählt einen erzählerischen Zugang, der den Leser in das jeweilige Leben hineinzieht, ohne sich in Daten und Fußnoten zu verlieren. Sie beschreibt mit einem Blick, der nicht der des Historikers, sondern der des Beobachters ist — einer, der Charaktere studiert, Temperamente, Eigenwilligkeiten. Die Lebensgeschichten entfalten sich in knappen, pointierten Szenen. Die Autorin setzt auf Bewegung statt Chronologie, auf Stimmungen statt Statistiken. So wird aus der Biografie eine Art Erzählung über Selbstbehauptung: der Moment, in dem eine Frau aufsteht und sagt, sie wolle anders leben, wird zum dramaturgischen Kern.
In dieser Erzählweise liegt der Reiz des Buches — und zugleich seine Begrenzung. Die Konzentration auf das Moment des Ausbruchs, des „Skandals“, verleiht jeder Figur Glanz und Intensität, aber sie lässt wenig Raum für das Danach, für das Alltägliche, das Scheitern, das Altern. Von der Leyen porträtiert ihre Heldinnen nicht im Licht der Nachsicht, sondern im Glanz ihrer Revolte. Die Tiefen ihrer inneren Konflikte, die Ambivalenzen ihrer Entscheidungen, bleiben oft angedeutet, selten entfaltet. Man spürt die Leidenschaft der Autorin, das Leuchten ihrer Bewunderung, doch bisweilen fehlt jene Distanz, die aus einer guten Erzählung ein analytisches Porträt macht.
Das Buch ist in dieser Hinsicht eher ein literarisches als ein wissenschaftliches Unternehmen. Von der Leyens Sprache ist klar, elegant, manchmal fast essayistisch; sie erzählt, als würde sie im Gespräch von diesen Frauen berichten, die ihr längst zu vertrauten Figuren geworden sind. Ihre Wortwahl verrät journalistische Schule — präzise, unprätentiös, dem Fluss der Geschichte verpflichtet. Dass sie diese Fähigkeit besitzt, ist kein Zufall: Marie-Luise von der Leyen, geboren 1939, studierte Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie, absolvierte die Deutsche Journalistenschule, arbeitete als Redakteurin beim Stern und als Kulturchefin der Vogue. Sie hat also ihr Leben lang über Menschen, über Ausdrucksformen, über das öffentliche und private Spiel mit Rollen nachgedacht. Diese biografische Prägung macht sie zu einer glaubwürdigen Erzählerin, wenn es um Frauen geht, die aus gesellschaftlichen Mustern ausbrechen. Ihre Kompetenz liegt nicht in der wissenschaftlichen Forschung, sondern in der Fähigkeit, Leben in Sprache zu verwandeln, Komplexität erzählerisch zu verdichten.
Thematisch bewegt sich ihr neues Buch in jenem weiten Feld zwischen Geschichtsschreibung und Gegenwartskommentar. Es ist, ohne sich explizit so zu nennen, ein Buch über Freiheit — über die Möglichkeit, sie zu ergreifen, und den Preis, den man dafür zahlt. Jede der porträtierten Frauen steht für eine bestimmte Art von Unabhängigkeit — für künstlerische, gesellschaftliche, erotische oder intellektuelle Selbstbestimmung. Doch die Autorin interessiert sich nicht für die Theorie der Freiheit, sondern für ihre Geste. Sie zeigt, wie Freiheit sich in Haltung übersetzt, in Blick, Kleidung, Berufung. Ihre Figuren sind Körper gewordene Widersprüche: stolz, verletzlich, exzentrisch.
Was dem Buch eine gewisse Modernität verleiht, ist der subtile Ton, mit dem es über Emanzipation spricht. Es erhebt nicht die moralische Stimme, sondern vertraut auf die Kraft des Beispiels. Von der Leyen weiß, dass die Freiheit jeder Frau — und jedes Menschen — immer neu erfunden werden muss. Der Skandal ist für sie nicht bloß der gesellschaftliche Aufruhr, sondern die innere Erschütterung, die einem neuen Leben vorausgeht. Das macht ihre Herangehensweise zugleich ästhetisch und empathisch.
Gleichwohl spürt man, dass von der Leyen ihre Figuren aus der Distanz der Gegenwart betrachtet. Die historische Verankerung bleibt oft schemenhaft, der Kontext eher Kulisse als Substanz. Die Porträts leben von psychologischer Intuition, nicht von dokumentarischer Tiefe. Wer also erwartet, die Porträtierten in ihrer Zeit und in all ihren Widersprüchen zu begreifen, wird stellenweise auf die Fantasie des Lesers verwiesen. Das mag man bedauern oder begrüßen — je nachdem, ob man das Genre der Biografie als Geschichtsschreibung oder als Kunstform begreift.
Im besten Sinne ist dieses Buch eine Einladung zum Weiterlesen. Es weckt Neugier: auf das tatsächliche Leben jener Frauen, auf die Archive, die Briefe, die Zeitzeugnisse, die hier nur angedeutet werden. Von der Leyen selbst scheint das bewusst zu sein. Ihre Texte haben den Charakter von Einführungen, von literarischen Appetizern, die den Blick öffnen und Lust darauf machen sollen, sich mit der einen oder anderen Biografie näher zu beschäftigen. Die Autorin erzählt, um Erinnerung zu aktivieren, nicht um sie zu fixieren.
Die stilistische Haltung des Buches erinnert an das Feuilleton der klassischen Prägung — an jene Kunst des Porträts, die zwischen Bewunderung und Analyse, zwischen Essay und Erzählung balanciert. In dieser Tradition steht dieses schöne kleine Taschenbuch: leichtfüßig im Ton, geistreich in der Beobachtung, manchmal etwas ungeduldig im Urteil. Es ist das Gegenteil eines schwergewichtigen Geschichtswerks, und gerade darin liegt seine Stärke. Von der Leyen weiß, dass man Bewunderung nicht verbieten kann — man kann sie nur kultivieren.
Wer dieses Buch liest, wird es nicht in der Hoffnung tun, eine vollständige historische Darstellung zu erhalten, sondern aus Lust an der Begegnung. Es ist ein Buch für jene, die sich von Lebensgeschichten inspirieren lassen, ohne nach Belegen zu fragen; für Leserinnen, die wissen, dass individuelle Freiheit nicht vom Himmel fällt, sondern erstritten werden muss — auch heute noch; und es ist ein Buch für Leser, die sich gerne daran erinnern lassen, dass das Wagnis, man selbst zu sein, immer schon ein Skandal war.
So bleibt Die Skandalösen ein anmutig erzähltes, bisweilen ein wenig zu glattes, aber stets aufrichtiges Plädoyer für die (weibliche) Eigenwilligkeit. Es ist ein Buch, das nicht alles erklärt, aber vieles anstößt; ein Buch, das keine Wissenschaft betreibt, sondern Geschichte lebendig werden lässt. Und vielleicht ist genau das die eigentliche Freiheit, die es feiert: die Freiheit, nicht alles sagen zu müssen, um das Wesentliche zu spüren.
Autor: Marie-Luise von der Leyen
Titel: „Die Skandalösen — Frauen, die sich ihre Freiheit genommen haben“
Herausgeber: Piper Taschenbuch
Seitenzahl: 240 Seiten
ISBN-10: 3492317189
ISBN-13: 978-3492317184
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