Christoph Poschenrieder: „Fräulein Hedwig“
Am: | Oktober 27, 2025
Christoph Poschenrieders neuer Roman Fräulein Hedwig ist ein stilles, aber eindringliches Buch über das Schicksal einer Frau, die zwischen Jahrhundertwende und NS-Zeit in ihrer Rolle gefangen ist — als Lehrerin, als Tochter, als psychisch fragile Einzelgängerin. Fräulein Hedwig, das war Fräulein Hedwig Poschenrieder, geboren am 3. März 1884, gestorben am 25. Juli 1944. Der Roman rekonstruiert ihr Leben aus den wenigen Dokumenten, die sich im Familienbesitz fanden, und ergänzt sie durch offizielle Dokumente, Krankenakten und viele weiteren Details, die der Autor bei seiner umfangreichen Recherche zusammenträgt.
Auf den ersten Blick erzählt der Roman eine unspektakuläre Lebensgeschichte, doch unter der Oberfläche entfaltet sich ein feines Panorama gesellschaftlicher Normen, innerer Zwänge und historischer Gewaltmechanismen. Das Buch liest sich ein Roman, betritt jedoch die Ebene des fiktionalen Erzählens nur an den Leerstellen der Biografie; der Text beschreibt die Suche nach den Einzelheiten eines nahezu vergessenen Lebens — eines Lebens, dessen gewaltsames Ende auch mit dem Euthanasie-Programm im Dritten Reich in Verbindung steht.
Poschenrieder gelingt dabei, was viele Autoren vermeiden: Er bleibt leise, ohne unentschieden zu wirken, und er schreibt historisch, ohne in das bloße Nachstellen von Vergangenheit zu verfallen. Sein Stil ist geprägt von einer geschulten Zurückhaltung. Poschenrieder ist ein Erzähler der Zwischentöne, des genauen Blicks, der Pause. Jede Zeile scheint abgewogen, jede Wendung zugleich distanziert und empathisch.
Wie schon in seinem Debüt Die Welt ist im Kopf zeigt er auch hier, dass seine Sprache niemals prunkt, sondern trägt: klar, rhythmisch, unaufgeregt, manchmal fast altmodisch im besten Sinn. Man spürt darin seine Herkunft aus der Philosophie und dem Journalismus; die Sätze sind präzise gebaut, argumentierend, doch nie trocken. Statt Emotionen zu behaupten, legt er sie frei. Hedwig wird nicht als Opfer inszeniert, sondern als Mensch, dessen Schwäche in der Kollision mit gesellschaftlichen Erwartungen sichtbar wird. Diese Form des literarischen Realismus — fast dokumentarisch in der Beobachtung, aber poetisch in der Verdichtung — gehört zu Poschenrieders großen Stärken.
Dass der Autor sich dieser Figur zuwendet, ist mehr als eine historische Übung. Es ist ein persönliches Projekt, getragen von seinem anhaltenden Interesse an Außenseitern, an jenen, die am Rand der Norm leben und deren Leben von der großen Geschichte hinweggefegt wird. Wie schon in Kind ohne Namen oder Das Sandkorn geht es auch hier um den Menschen als Schauplatz moralischer Zumutungen. Poschenrieder ist kein moralischer Ankläger, sondern ein Chronist des Verschwindens. Sein Hedwig-Roman lässt sich lesen als Nachdenken über die Mechanismen sozialer Ausgrenzung, über Krankheit und Normalität, über die weibliche Biografie in einer Welt, die für Individualität keinen Platz hat. Man ahnt beim Lesen, dass den Autor weniger historische Exotik reizt als die Frage, wie viel Freiheit ein Mensch hat, wenn alles um ihn herum zur Ordnung drängt.
Im Vergleich zu seinen früheren Büchern fällt auf, wie sehr Poschenrieder seinen Ton verlangsamt hat. Wo Mauersegler noch mit Ironie und leiser Komik spielte, herrscht hier eine melancholische Ruhe. Der Autor scheint an seinem eigenen Werk gereift: Die intellektuelle Konstruktion früherer Romane hat einer schlichten, aber tiefen Empathie Platz gemacht. Fräulein Hedwig ist kein verkopftes Spiel, sondern eine Bewegung hin zum Menschlichen. Die Sprache trägt diese Bewegung mit: knappe Dialoge, sparsame Metaphern, eine dichte, fast filmische Atmosphäre. Man liest die Geschichte nicht als große Dramaturgie, sondern als fortwährende, beklemmende Stille.
Christoph Poschenrieder setzt seine Protagonistin in ein historisches Licht, das zugleich moralisch und poetisch wirkt. Die Lehrerin Hedwig Poschenrieder, von Krankheit und gesellschaftlichem Druck gezeichnet, steht sinnbildlich für eine Generation, deren psychische Verletzlichkeit in der NS-Zeit zur juristischen und existenziellen Gefahr wurde. Das macht den Roman politisch, ohne ihn zum Thesenbuch zu machen. Gerade durch die Weigerung, laut zu urteilen, erreicht er eine größere Wahrhaftigkeit. Man spürt, dass Poschenrieder die Vergangenheit nicht verklären will, sondern ihre Ungeheuerlichkeit in der Banalität des Alltags aufscheinen lässt.
Am Ende bleibt ein Text, der sich gegen schnelle Lektüre sperrt. Fräulein Hedwig ist ein Buch für Leserinnen und Leser, die bereit sind, sich auf die leisen Register des Erzählens einzulassen; für jene, die historische Stoffe nicht als Dekoration, sondern als moralisches Experiment begreifen; für alle, die das Unspektakuläre als Ort der Wahrheit schätzen. Poschenrieder hat einen Roman geschrieben, der nicht schreit, sondern nachhallt — und der beweist, dass auch die sanfteste Sprache die härtesten Fragen stellen kann.
Autor: Christoph Poschenrieder
Titel: „Fräulein Hedwig“
Herausgeber: Diogenes
Seitenzahl: 336 Seiten
ISBN—10: 325707350X
ISBN—13: 978—3257073508
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