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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Roger Willemsen: „Liegen Sie bequem? — Vom Lesen und von Büchern“

Am: | Oktober 25, 2025

Roger Willemsen war nie nur ein Literaturvermittler, nie bloß ein Kritiker, der die Bücher anderer las, um sie zu bewerten. Er war ein leidenschaftlicher Flaneur durch das Reich der Gedanken, ein Sammler von Sätzen, ein Liebhaber des gedruckten Wortes, der in jedem Text die Spuren der Menschlichkeit suchte. Sein posthum erschienenes Buch Liegen Sie bequem? — Vom Lesen und von Büchern ist eine Hommage an diese Leidenschaft. Es versammelt Essays, Reden, Glossen und kleine Betrachtungen über das Lesen, über Autoren, über das Leben mit Literatur — und über das Leben durch Literatur. Dabei entsteht weniger ein systematisches Werk als eine Art literarisches Tagebuch, ein Nachlassband voller funkelnder Splitter, in denen Willemsens Geist noch einmal aufflackert, ironisch, melancholisch und hellwach.

Das Buch beginnt mit der scheinbar harmlosen Frage, die dem Titel seinen Namen gibt: „Liegen Sie bequem?“ — eine Frage, die in einer Buchhandlung an einen Kunden gerichtet sein könnte, der sich auf ein Sofa setzt, aber bei Willemsen zur poetischen Metapher für das Lesen wird. Denn Lesen, das macht er von Anfang an deutlich, ist keine bequeme Tätigkeit. Es ist ein Vorgang der Verwandlung, manchmal schmerzhaft, immer anstrengend, selten glatt. Der Leser ist kein Konsument, sondern ein Mitreisender, ein Komplize der Autorin, ein stiller Mitarbeiter am Text. Willemsen beschreibt diesen Prozess nicht akademisch, sondern in seinem typisch essayistischen Ton, der zwischen Neugier und Skepsis, zwischen zärtlicher Begeisterung und genauer Beobachtung changiert.

Die Sammlung ist kein Buch über Bücher im enzyklopädischen Sinne, kein Lexikon des Lesens, sondern ein persönliches Bekenntnis. Willemsen schreibt über seine literarischen Helden, und doch geht es nie um bloße Verehrung. Er liest sie als Spiegel der eigenen Existenz, als Katalysatoren für das Denken. Willemsens Herangehensweise bleibt dabei immer essayistisch — er denkt assoziativ, springt, folgt Fährten, verliert sich in Details, die plötzlich zum Zentrum werden.

Wissenschaftliche Systematik liegt ihm fern. Er argumentiert nicht, er erzählt. Seine Sätze sind tastend, mitunter aphoristisch, nie trocken. Wo der Literaturwissenschaftler den Text seziert, lauscht Willemsen seinem Atmen. Ihm geht es um die Erfahrung, nicht um die Theorie. Das mag man ihm vorwerfen, wenn man akademische Strenge sucht; doch gerade in dieser subjektiven Haltung liegt die große Stärke des Buches. Es ist eine Feier des Lesens als Lebensform.

Willemsen schreibt, als säße er mit dem Leser in einem Salon, halb Gespräch, halb Geständnis. Die Grenze zwischen Essay und Anekdote verschwimmt. Immer wieder streut er Beobachtungen aus seinem eigenen Leben ein, kleine Episoden aus Lesesituationen — wie er auf Reisen liest, in Hotels, in Zügen, wie er Bücher mit sich trägt, als wären sie Schutzamulette. Lesen wird bei ihm zur existenziellen Tätigkeit: Es gibt kein „außerhalb“ der Literatur, alles ist durchdrungen von Texten, Erinnerungen, Zitaten. Man könnte sagen, er liest die Welt wie ein Buch – und die Bücher wie Welten.

Diese poetische Überhöhung des Lesens ist typisch für Willemsen. Seine Essays leben von der Sprache, von ihrem Rhythmus, ihrer Musikalität. Er liebt die geschwungenen Perioden, den eleganten Einschub, das kleine Paradox. Die Sätze sind oft so kunstvoll gebaut, dass sie beinahe zu schön sind, um sie sofort zu verstehen; man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Es ist ein Stil, der sich an die Tradition der großen Feuilletonisten anschließt — von Karl Kraus bis Reich-Ranicki —, aber ohne deren autoritäre Geste. Willemsen ist nie belehrend, immer verführend.

Gerade darin liegt sein besonderer Reiz: Er schreibt nicht „über“ Literatur, sondern „aus“ ihr heraus. Jeder Satz scheint aus der Lektüre geboren, nicht aus der Theorie. Man spürt, dass er Bücher nicht benutzt, um Thesen zu untermauern, sondern um sich selbst zu befragen. Literatur ist für ihn kein Gegenstand, sondern eine Haltung. Er liest, um zu leben – und lebt, um zu lesen. Dieses Wechselspiel zieht sich durch alle Texte des Bandes, als roter Faden einer Existenz, die ohne Sprache nicht denkbar ist.

Doch so sehr Willemsen die Kunst des Lesens feiert, so sehr bleibt er sich der Grenzen bewusst. Er weiß, dass Literatur kein Trostpflaster ist, kein moralisches Werkzeug. Sie kann den Menschen nicht bessern, aber sie kann ihn wacher machen. Immer wieder blitzt in seinen Betrachtungen eine leise Melancholie auf, das Wissen um die Endlichkeit der Lektüre. Bücher sind, so schreibt er an einer Stelle, „unsere besten Zeugen, aber sie halten uns nicht fest“. In dieser Einsicht schwingt eine Traurigkeit mit, die das ganze Buch durchzieht: das Bewusstsein, dass Lesen ein einsames Geschäft bleibt, selbst wenn es verbindet.

Seine wissenschaftliche Haltung lässt sich am ehesten als „gebildete Subjektivität“ beschreiben. Willemsen war kein Philologe, sondern ein Intellektueller alten Stils, der die Literatur als Erfahrungsraum verstand. Er kannte die Theorien, aber er wollte sie nicht wiederholen. Wenn er über den Sinn des Lesens schreibt, tut er es nicht in der Sprache der Literaturwissenschaft, sondern in der des Erlebens. Seine Argumente entstehen aus Empfindung, seine Urteile aus Nähe. Das macht seine Texte weniger überprüfbar, aber auch lebendiger. Sie sind Essays im ursprünglichen Sinn — Versuche, Annäherungen, tastende Denkbewegungen.

Wer hier nach methodischer Präzision sucht, wird enttäuscht sein. Willemsen interessiert sich nicht für Zitate in Fußnoten, sondern für Zitate im Herzen. Er zitiert, weil er liebt, nicht weil er belegt. Wissenschaft im akademischen Sinn ist das nicht — aber es ist eine andere Form der Erkenntnis, die vielleicht tiefer reicht: eine poetische Erkenntnis, die das Lesen als existenzielle Begegnung begreift. Diese Haltung macht sein Buch so kostbar wie unzeitgemäß. In einer Welt, in der Literatur häufig nur noch als Marktphänomen betrachtet wird, plädiert Willemsen für das Lesen als Lebenskunst.

Gerade weil das Buch posthum erschienen ist, liegt über allem ein Ton des Abschieds. Man liest die Texte wie späte Briefe eines Autors, der noch einmal Rechenschaft ablegt über das, was ihm wichtig war. Es ist, als wolle Willemsen den Leser ein letztes Mal an die Hand nehmen und sagen: Sieh, das ist die Welt, wie sie durch die Literatur hindurchschimmert. Da ist keine Dogmatik, kein Pathos, sondern eine sanfte Verbindlichkeit, die ansteckend wirkt. Seine Begeisterung für das Lesen springt über, selbst auf jene, die vielleicht längst aufgehört haben, an die Wirkmacht von Büchern zu glauben.

In der Summe ist Liegen Sie bequem? kein theoretisches Werk, sondern ein Liebesbekenntnis. Es lebt von Willemsens Fähigkeit, Literatur zu bewohnen, von seinem Gespür für Zwischentöne, von seiner Überzeugung, dass Lesen ein moralischer Akt ist — nicht, weil es belehrt, sondern weil es Empathie schult. Sein Stil verbindet Eleganz mit Wärme, Geist mit Gefühl. Die Texte lesen sich, als spräche jemand, der alles gesehen hat und doch immer wieder staunen kann.

Am Ende bleibt der Eindruck eines Buches, das in seiner unsystematischen Ansammlung von Texten gerade seine größte Kohärenz findet. Es ist ein Mosaik aus Gedanken über die Macht der Worte, über die Schönheit des Zweifels, über die Fragilität der Erkenntnis. Willemsen zeigt, dass Lesen kein Rückzug ist, sondern eine Form der Weltaneignung — eine stille, aber radikale Geste gegen die Oberflächlichkeit.

In Kürze: Liegen Sie bequem? ist ein gelungener Nachlassband, der Roger Willemsens Denken und Stil in reiner Form zeigt — ein Buch voller Leidenschaft für Literatur, voller Zärtlichkeit für die Sprache und voller Skepsis gegenüber jeder Form von Gewissheit. Es ist wenig wissenschaftlich, aber hochintellektuell; subjektiv, aber nie beliebig; verspielt, aber von tiefer Ernsthaftigkeit getragen. Wer eine präzise literaturwissenschaftliche Abhandlung sucht, wird sie hier nicht finden. Wer aber verstehen will, was Lesen für einen Menschen bedeuten kann, der sich der Literatur verschrieben hat, wird in diesem Buch ein Zuhause finden.

Besonders ansprechen wird es jene Leser, die Literatur nicht als Fach, sondern als Lebensform begreifen — Menschen, die sich beim Lesen selbst befragen, die Bücher nicht nur konsumieren, sondern bewohnen. Es ist ein Buch für Liebhaber des Lesens, für jene, die in Sprache mehr sehen als Information, für all die Unverbesserlichen, die an die Verwandlungskraft der Worte glauben. Für sie liegt dieses Buch, um mit Willemsen zu sprechen, nicht bequem — aber es liegt genau richtig.

 

 

 

 

Autor: Roger Willemsen
Titel: „Liegen Sie bequem? — Vom Lesen und von Büchern“
Herausgeber: S. FISCHER
Seitenzahl: 448 Seiten
ISBN-10: 310397602X
ISBN-13: 978-3103976021

 

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