Charlotte Mew: „Einige Arten zu lieben – Erzählungen“
Am: | Juli 11, 2025
Charlotte Mew – das ist eine Stimme, die flüstert und zerschneidet, die streichelt und sticht, die verstört, entzückt und sich nie ganz einfangen lässt. Mit der Erzähl- und Gedichtsammlung Einige Arten zu lieben liegt nun ein auf Deutsch zugängliches Konzentrat eines Werks vor, das so eigen ist, dass es weder im Kanon seiner Zeit noch im feministischen Nachhall der 1980er Jahre je bequem Platz nahm. Die Autorin, die sich von der Welt zurückzog und zugleich so genau in sie hineinsah, lässt sich weder als viktorianische Träumerin noch als frühe Avantgardistin festlegen – sie ist ein Solitär. Wer heute Charlotte Mew liest, begegnet einer Sprachkraft, die ebenso poetisch wie präzise ist, einer Fabulierlust, die durch ihre dunklen Schattenräume führt, und einer Autorin, die das Innenleben ihrer Figuren mit chirurgischer, oft melancholischer Hingabe seziert.
Der Erzählband umfasst eine Auswahl von Geschichten, die zwischen 1894 und 1914 entstanden sind. Dennoch sind diese Geschichten in ihrer literarischen Gattungszuweisung problematisch, denn der literarische Stil von Charlotte Mew ist fluid: Prosa wandert ins Lyrische, Gedichte werden zu Prosa, alles scheint mit allem verbunden, mal scheint eine Erzählerin am Werk zu sein, mal ein Erzähler und ein anderes Mal bleibt auch dies unbestimmt. Es ist eine Art osmosehafte Bewegung, die nicht nur formal, sondern auch thematisch spürbar ist. Jene Verweigerung eines stringenten literarischen Stils scheint ihre Ursachen nicht zuletzt in der Biografie der Autorin zu finden, wovon noch die Rede sein wird.
Immer wieder kehren Motive wie der Tod, das Ausgeliefertsein, religiöse Sublimierung und erotische Versagung wieder. Der Tod ist bei Mew kein metaphysisches Postulat, sondern eine existentielle Verheißung. Er tritt auf als Grenzerfahrung, als Fluchtpunkt einer tiefen Einsamkeit, manchmal als ironische Pointe. In der Geschichte „Das Lächeln“ etwa wird ein pilgerähnliches Mädchen von der Aura einer alten Frau auf einem Turm angezogen, nur um am Ende nicht das Heil, sondern den Tod zu finden. Das Märchenhafte kollidiert hier mit einem erschütternden Sinnverlust, eine Mischung, die Mews Schreiben charakterisiert: poetische Imagination trifft auf schmerzvolle Desillusionierung.
Stilistisch arbeitet Mew mit einer bewusst preziösen, fast manieristischen Sprache, die oft in ironischer Distanz zu ihrem Gegenstand tritt. Ihr Erzählen ist alles andere als flüssig oder naturalistisch, vielmehr wird durch scheinbar umständliche Formulierungen ein subversiver Mehrwert erzeugt. In ihrem Stil schwingt die Gewissheit mit, dass Sprache kein neutrales Medium ist, sondern ein verzweigtes System voller Ambiguitäten. Dass sie dafür von Zeitgenossen wie Virginia Woolf als „anders als alle anderen“ bezeichnet wurde, ist mehr als ein Lob – es ist ein Hinweis auf eine literarische Eigenheit, die der Zeit weit voraus war.
Charlotte Mew wurde 1869 in eine großbürgerliche Familie in London geboren, die von frühen familiären Tragödien und gesellschaftlichem Abstieg geprägt war. Zwei Geschwister, Henry und Freda, litten an Schizophrenie und mussten in psychiatrischen Heimen untergebracht werden – ein Umstand, der Mew sowohl emotional als auch finanziell belastete. Der Vater starb bereits 1898, und das einstige Stadthaus in Bloomsbury musste Stück für Stück untervermietet werden. Als 1923 auch noch die Mutter an einer Krebserkrankung starb, mussten Charlotte und ihre Schwester Anne die Verantwortung für sich und die beiden Geschwister in den Heimen selbst tragen.
Darüber hinaus verpflichteten sich beide Schwestern früh zu einem mönchischen und sexuell enthaltsamen Leben, um das „vererbliche Unglück“ der Geisteskrankheit nicht weiterzugeben; denn nach Ansicht der damals neuen Wissenschaft der Eugenik (Francis Galton) waren Geisteskrankheiten erblich und konnten auch an die Nachfahren weitergegeben werden. Als schließlich auch ihre Schwester Anne 1927 an Krebs verstorben war, verlor Charlotte Mew, die zeitlebens unter Depressionen litt, den letzten Lebensmut; sie nahm sich 1928 das Leben, indem sie Lysol, ein Desinfektionsmittel, trank.
Eine solche biografische Konstellation wirkt nicht nur als Kulisse, sondern als dunkler Resonanzboden ihrer Texte. Die radikale Verleugnung der eigenen Geschlechtlichkeit strahlte auch auf ihr Äußeres aus: Charlotte Mew trug schlichte, mönchisch wirkende Kleidung, schwarzen Rock, schwarze Samtjacke und weiße Bluse mit schwarzem Halstuch; ihr Haar war kurz geschnitten. – Während gelebte Sexualität für sie lebenslang ein Tabu blieb, sind zahlreiche ihrer Texte gleichwohl voller erotischer Anspielungen und zeugen von einer intensiven Sinnlichkeit.
Mew selbst war keine offen feministische Figur, was ihre Rezeption in späteren Jahrzehnten erschwerte. Dennoch ist ihr Werk in vielerlei Hinsicht ein Akt literarischer Emanzipation. Sie schreibt über weibliches Begehren, über die Abgründe der Liebe, über Autonomie und Rückzug – jedoch nie als programmatische Stellungnahme, sondern als dichterische Verinnerlichung. Ihre Texte sind keine Manifeste, sondern Verdichtungen von Ambivalenzen. Das macht sie heute so aktuell – und zugleich schwer einzuordnen.
Dementsprechend lässt sich das literarische Werk von Charlotte Mew nur bedingt einer Strömung zuordnen. Zweifellos ist ihr Werk am Übergang vom viktorianischen zum modernen Schreiben angesiedelt und trägt Züge des Fin de siècle, aber sie unterläuft konsequent die Konventionen beider Epochen. Das Viktorianische in ihrer Prosa – etwa das Spiel mit Konventionen, die moralische Aufladung, die epischen Erzählweisen – wird durch ein modernes Bewusstsein konterkariert, das Fragen nach Identität, Geschlecht, Sprache und Subjektivität stellt, ohne sie je endgültig zu beantworten.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ihre Strategie der „Unpersönlichkeit“. Mew schreibt mit einer Art Selbstauflösung, die es erlaubt, Stimmen verschiedenster Geschlechter, Klassen, Altersstufen oder psychischer Zustände in sich aufzunehmen. Dass diese Form der literarischen Maskierung zugleich eine Form des Selbstschutzes war, liegt angesichts ihrer Biografie nahe.
So fällt Charlotte Mew vor allem durch ihre konsequente Weigerung auf, sich festlegen zu lassen. Wo andere sich mit sozialen Themen, Erziehungsfragen oder der Rolle der Frau beschäftigten, ging Mew in die Tiefe des Unaussprechlichen. Ihre Kunst verhandelt nicht die Gesellschaft – sie entzieht sich ihr. Auch im Vergleich mit Virginia Woolf zeigt sich ein fundamentaler Unterschied: Während Woolf die Grenzen der Sprache als Ausdruck der weiblichen Subjektivität dekonstruierte, entzog Mew ihrer Sprache überhaupt jede personale Verankerung. Sie ist keine Schriftstellerin „der Frau“, sondern eine Schriftstellerin des Menschlichen – in seiner Zerbrechlichkeit, seiner Verlorenheit, seiner Unfassbarkeit.
Doch darf diese Unbestimmtheit nicht mit Distanz oder Kälte verwechselt werden. Im Gegenteil: Charlotte Mews Werk ist durchdrungen von Mitgefühl, von einer tiefen, oft schmerzhaften Empathie. In einem Brief an ihren Freund Sydney Cockerell schreibt sie: „Sympathie ist nicht die zwangsweise Verabreichung der eigenen Patentmedizin, sondern der Respekt für die Sehweise des anderen, auch dann, wenn einem das Verständnis dafür fehlt.“ Diese Haltung durchzieht nicht nur ihre Briefe, sondern jede Zeile ihrer Literatur.
Im Zentrum von Mews Schreiben steht ein unstillbares Begehren – nach Nähe, nach Erlösung, nach Verschmelzung. Doch dieses Begehren bleibt stets unerfüllt. Ihre Figuren sind Gezeichnete, Verlorene, Ausgestoßene. Ihre Geschichten enden selten in Hoffnung, meist in Tod oder Verlust. Und doch – oder gerade deshalb – bleibt ihre Literatur im Gedächtnis. Sie verstört, aber sie leuchtet auch. Sie spricht von den dunklen Rändern der Erfahrung – aber mit einer Sprache, die diese Dunkelheit in Schönheit verwandelt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Charlotte Mew eine der übersehenen Meisterinnen der englischen Literatur ist. Ihre Stimme, ihre Bilder, ihre unverkennbare Handschrift machen sie zu einer Künstlerin von singulärem Rang. Dass sie heute – endlich – in deutscher Übersetzung gelesen werden kann, ist mehr als eine editorische Wiederentdeckung. Es ist eine Einladung, sich auf eine Literatur einzulassen, die keine Antworten gibt, aber alle Fragen stellt.
Autor: Charlotte Mew
Titel: „Einige Arten zu lieben – Erzählungen“
Herausgeber: C.H.Beck
Seitenzahl: 271 Seiten
ISBN-10: 3406830811
ISBN-13: 978-3406830815
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