Klaus Zeyringer, Ursula Prutsch: „Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648-2001“
Am: | Juni 29, 2025
Will man etwas über die Vergangenheit erfahren, so ist man auf einen „Mittler“, ein Medium, angewiesen. Der Zugang zu dem, was wir als „Geschichte“ bezeichnen, erschließt sich nur medial; eine dieser historischen „Quellen“, wie sie in der Geschichtswissenschaft genannt werden, sind Zeitungen und Zeitschriften, also gedruckte Texte und Illustrationen aus vergangenen Zeiten. Interessant bei der Verwendung historischer Quellen (und jeweils kritisch zu hinterfragen) ist der jeweilige Grad ihrer Objektivität: Wie verlässlich sind ihre Aussagen? Wie gefärbt sind die Berichte von vergangenen Ereignissen?
Es ist die Aufgabe des Historikers, jene Quellen zu sichten, zu evaluieren und auszuwählen, sodann aus ihnen Original-Material der jeweiligen Zeit zusammenzustellen und zu zitieren, um die eigenen Thesen über den Lauf der Geschichte zu bekräftigen und gegebenenfalls gegen andere Argumente zu verteidigen. Damit wird klar, dass also unsere Interpretation der Vergangenheit – was wir allgemein übereinstimmend als die „wahre“ Erzählung der „Geschichte“ anerkennen – immer nur eine Momentaufnahme des jeweiligen Konsenses sein kann.
Dennoch verfolgen die beiden Autorinnen des vorliegenden Buches den interessanten Ansatz, das Zeitgeschehen vom Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 bis zum Anschlag auf das World trade Center in New York 2001 im Spiegel und aus der Perspektive von Pressetexten neu zu erzählen. Das Ergebnis ist eine spannende Reise durch die Zeitgeschichte und durch die internationale Presselandschaft der vergangenen 350 Jahre.
Ein langer Atem ist gefragt, nicht nur beim Lesen, sondern bereits beim Aufschlagen: Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648–2001 – ein Titel wie ein Gongschlag, eine Suggestion der Dringlichkeit, ja: der Nachrichtenerschütterung. Klaus Zeyringer und Ursula Prutsch haben ein Werk vorgelegt, das einerseits nichts Geringeres als eine Geschichte der Welt durch das Prisma des Zeitungsjournalismus sein will, andererseits in seiner bewusst gewählten Materialfülle eine fast dialektische Bewegung aufzeigt: Die Illusion des Objektiven trifft auf die Unentrinnbarkeit des Zeitgenössischen. Dabei ist ihr Ansatz kein bloß medienhistorischer Katalog, keine museale Vitrine druckhistorischer Artefakte. Vielmehr gelingt es ihnen, die Nachricht als ein kulturelles Ereignis ersten Ranges zu deuten, als Form, in der sich Weltwissen nicht nur spiegelt, sondern überhaupt erst konstituiert.
Zeyringer, Germanist und Literaturhistoriker, ist kein Unbekannter, wenn es um die Verbindung von Kultur und Öffentlichkeit geht. Sein Werk über die österreichische Literatur nach 1945 ist ebenso verdienstvoll wie pointiert. In Ursula Prutsch trifft er auf eine amerikanistisch und lateinamerikanisch geschulte Historikerin mit einem scharfen Sinn für politische Symbolik und kulturelle Transfers. Beide Autoren verbindet der Blick auf Medien als mehrdimensionale Vermittlungsinstanzen – nicht nur Abbild der Zeit, sondern aktive Mitspieler im Spiel der Kräfte. Ihre Allianz wirkt also alles andere als zufällig: Es ist die Konvergenz zweier Perspektiven – des geisteswissenschaftlich-linguistischen Tiefenblicks und der historisch-politischen Großaufnahme.
Der Einstieg in das Buch mutet beinahe theatralisch an, eine Art Ouvertüre aus dem Maschinenraum der Kommunikation: Der Westfälische Friede 1648, nicht nur als diplomatische Setzung nach Jahrzehnten blutiger Verheerung, sondern als Geburtsstunde eines systematischen Nachrichtenwesens. Mit der Institutionalisierung der Presse beginnt ein neues Kapitel der Öffentlichkeit. Man spürt bereits hier das Leuchten in den Zeilen, den Tonfall einer Erzählerlust, die sich nicht mit Archivstaub begnügt. Die Zeitung erscheint in dieser Darstellung als medialer Kristallisationspunkt des modernen Staates, als Repräsentant einer neuen Ordnung von Raum, Zeit und Wahrheit.
Der erzählerische Zugriff changiert zwischen präziser Zitatkunst – etwa in der Wiedergabe frühneuzeitlicher Berichtsstile – und analytischem Tiefenbohren. Wie wurden Nachrichten über Kriege, Päpste, Erdbeben, Kolonialreisen oder königliche Geburten formuliert? Was galt als berichtenswert, was wurde verschwiegen? Es ist eine Geschichte des Blicks, genauer: eine Geschichte der Entscheidungen über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Prutsch und Zeyringer spannen dabei einen bewundernswert weiten Bogen: Von der höfischen Nachricht über die bürgerliche Meinungsbildung der Aufklärung bis hin zu den massenmedial orchestrierten Schockwellen des 20. Jahrhunderts. Immer wieder bleibt der Fokus aber auf der Sprache selbst – ihrer Macht, ihren Wendungen, ihrer Suggestion.
Gerade die Abschnitte zum 19. Jahrhundert – den Revolutionsjahren 1848, den Nationalstaatsgründungen, der Epoche Bismarcks – gehören zu den eindrucksvollsten. Hier zeigt sich, wie sehr die Presse selbst in das Politische verstrickt war, nicht nur als Chronistin, sondern als Akteurin. In den sprachlichen Mustern und ideologischen Codes der Zeitungen offenbart sich ein ungeschriebener Diskurs über Macht, Identität und Zugehörigkeit. Man denke an den Tonfall der „Neuen Freien Presse“, an das moralische Pathos der „Times“ oder die martialische Bildsprache des „Völkischen Beobachters“ später. Das alles wird bei Zeyringer und Prutsch nicht nur quellengetreu nacherzählt, sondern unterzogen einem interpretativen Filter, der das Dahinter des Gesagten sichtbar machen will.
Was das Buch so besonders macht, ist sein feines Gespür für Ambivalenz. Es entlarvt nicht, es denunziert nicht, sondern liest. Es liest Geschichte durch Schlagzeilen, ohne dabei der Schlagzeile die Deutungshoheit zu überlassen. Die Autoren kennen die Verführungskraft der medialen Form – und sie halten dieser mit intellektueller Selbstständigkeit stand. Gerade in den Kapiteln zu den Weltkriegen wird das deutlich. Da wird nicht bloß aufgezählt, wie Zeitungen das Grauen verwaltet oder verharmlost haben, sondern mit semiotischem Gespür seziert, wie sich Kriegsrhetorik, Pathos und Zensur gegenseitig bedingen. In der Analyse einer Schlagzeile der „Berliner Illustrierten Zeitung“ von 1916 liegt mehr Erkenntnis als in manchem strategischen Traktat: die „große Offensive“ als sprachlicher Fluchtpunkt zwischen Hoffnung, Lüge und nationalistischer Erregung.
Besonders hervorzuheben ist auch die sprachliche Gestaltung des Buchs selbst. Trotz des umfangreichen Quellenmaterials und der analytischen Tiefe bleibt der Ton durchgängig zugänglich, ja beinahe essayistisch. Man merkt, dass hier Autoren schreiben, die das Schreiben ernst nehmen. Kein Jargon, kein akademisches Dickicht, sondern eine Sprache, die sich dem Leser zuwendet, ohne sich anzubiedern. Es ist diese Mischung aus Klarheit und Nachdenklichkeit, die das Werk aus dem Meer der medienhistorischen Publikationen hervorhebt. Der Satzbau ist gelegentlich mäandernd, nie weitschweifig. Metaphern werden dosiert eingesetzt, meist als semantische Leuchtraketen, nicht als Zierrat.
Biografisch gesehen ist das Buch nicht nur ein Dokument der Zusammenarbeit zweier Wissenschaftler, sondern auch Ausdruck zweier sehr unterschiedlicher, aber einander ergänzender Werdegänge. Der Germanist Klaus Zeyringer, 1953 in Mürzzuschlag geboren, hat sich über Jahrzehnte als ebenso streitbarer wie stilistisch pointierter Kulturkritiker einen Namen gemacht. Seine Nähe zur Literatur lässt ihn auch in diesem Buch nie das Sprachliche aus den Augen verlieren. Ursula Prutsch wiederum, Jahrgang 1965, ist als Professorin für Amerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ein Beispiel für jene hybride, transatlantische Wissenschaftspersönlichkeit, die zwischen Kultur, Politik und Mediengeschichte pendelt. Ihre Spezialgebiete – Populismus, Migration, Identitätsdiskurse – fließen hier nicht als Exkurse ein, sondern formen die Denkweise des Textes.
Wer „Breaking News“ liest, liest nicht nur über Nachrichten, sondern über sich selbst. Denn die Presse, das macht dieses Werk eindrücklich klar, ist nicht nur Vermittlerin, sondern Mitgestalterin des Weltbewusstseins – und damit ein Archiv unserer Hoffnungen, Ängste und Zuschreibungen.
Mit einer gewissen Erleichterung stellt man beim Lesen von Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648–2001 fest: Dieses Buch ist, bei aller thematischen Dichte und gelehrten Raffinesse, ein erstaunlich lesbares Werk. Keine trockene Abhandlung, kein akademischer Monolith, sondern ein flüssig erzählter, geistreich komponierter Gang durch die Jahrhunderte – geleitet von einem Stil, der sich der Komplexität seines Gegenstands bewusst ist, ohne sich in ihr zu verlieren. Die Autoren schreiben mit jener feinen Selbstdisziplin, die man nur bei intellektuellen Stilisten findet: bei Menschen, die das Denken als Handwerk begreifen und das Schreiben nicht als bloße Vermittlung, sondern als zweite Reflexionsstufe.
Was dabei besonders auffällt, ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Fakt und Deutung. Zahlen, Zitate, Jahreszahlen – sie sind reichlich vorhanden, aber sie verschlingen nicht die Lektüre. Stattdessen fügen sie sich in einen Strom aus kulturgeschichtlichen Reflexionen, rhetorischer Sensibilität und politischer Analyse. Die Kapitel beginnen meist mit einem atmosphärischen Einstieg – ein Ereignis, ein Ausschnitt aus einem Artikel, manchmal auch ein paradox anmutender Befund –, und münden dann in fein differenzierte Überlegungen, die niemals im akademischen Gestus des Besserwissens enden, sondern vielmehr eine Nachdenklichkeit evozieren, die beim Leser nachhallt.
Dabei bedienen sie sich keineswegs eines boulevardesken Tons. Wer Sensationen erwartet, bleibt außen vor. Die „Breaking News“ des Titels sind nicht schrill, sondern historisch. Das Buch lebt nicht vom Spektakel, sondern von der Analyse seiner Mechanismen. Gerade deshalb entfaltet es seine Sogwirkung: weil es das scheinbar Bekannte – den Zeitungsartikel, die Schlagzeile, den politischen Bericht – plötzlich fremd erscheinen lässt. Wie eine Brille, die man sich aufsetzt, um zu erkennen, was man nie zu sehen gelernt hat.
Die Sprache, die diesen Blick vermittelt, ist durchweg klar, manchmal pointiert, mitunter sogar elegant. Die Autoren scheuen nicht vor Ironie zurück – dort, wo historische Selbstgewissheiten entlarvt werden, etwa im Fall der kolonialen Berichterstattung oder der Mediennarrative der 1930er Jahre. Aber sie geraten nie ins Moralisieren. Ihre Urteilskraft ist historisch informiert, nicht ideologisch motiviert. Gerade das macht ihre Deutungen tragfähig.
Wer also sollte dieses Buch lesen? Wer ist das implizite Publikum dieser langen, aufschlussreichen Reise durch Jahrhunderte der Presselandschaft? – Zunächst natürlich: alle, die sich für Mediengeschichte im weitesten Sinne interessieren. Aber das Buch zielt höher. Es ist ebenso für Studierende und Lehrende der Geistes‑, Sozial‑ und Kulturwissenschaften geeignet wie für interessierte Leser mit einem Sinn für historische Zusammenhänge und sprachliche Feinheiten. Wer sich mit dem Wandel der Öffentlichkeit beschäftigt, mit der Geschichte von Meinung, Information und politischer Kommunikation, findet hier eine glänzend formulierte Begleitstudie, ein Lesebuch und eine Denkanleitung in einem.
Und doch bleibt das Buch bei aller Zugänglichkeit ein Werk, das Aufmerksamkeit fordert. Es ist kein Lesestoff für den müden Abend. Es verlangt Konzentration, einen wachen Geist und die Bereitschaft, sich mit komplexen Entwicklungen auseinanderzusetzen, die nicht immer einfache Antworten bereithalten. Doch wer sich darauf einlässt, wird belohnt – mit einer intellektuellen Reise, die nicht belehrt, sondern bereichert.
Vielleicht ist das das größte Verdienst von Breaking News: dass es zeigt, wie man mit Wissen schreiben kann, ohne schwer zu werden. Wie man historisches Material zum Sprechen bringt, ohne es zu überformen. Und wie man einem Medium gerecht wird, das selbst so oft verzerrt, verklärt und verkürzt wurde: der Zeitung. Ein Denkmal in Buchform – aber eines, das lebt, das atmet und das Fragen stellt, wo andere längst Antworten vermuten.
Autor: Klaus Zeyringer, Ursula Prutsch
Titel: „Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648-2001“
Herausgeber: S. FISCHER
Seitenzahl: 432 Seiten
ISBN-10: 3103976283
ISBN-13: 978-3103976281
Tags: Geschichte > Klaus Zeyringer Ursula Prutsch Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648-2001 > medien > presse > presselandschaft > rezension Breaking News > rezension Klaus Zeyringer Ursula Prutsch Breaking News > rezension Klaus Zeyringer Ursula Prutsch Breaking News – Zeitgeschehen in der Presse von 1648-2001 > weltgeschichte in der presse > zeitgeschehen > zeitung > zeitungswesen