Konrad Merz: „Ein Mensch fällt aus Deutschland“
Am: | Mai 26, 2025
Es ist ein schmales Buch, äußerlich beinahe unscheinbar, doch innerlich ein Dokument von eruptiver politischer und menschlicher Wucht: Ein Mensch fällt aus Deutschland von Konrad Merz, erstmals 1936 im Amsterdamer Querido Verlag erschienen, gehört zu den eindringlichsten Zeugnissen der deutschen Exilliteratur. Es ist der Bericht eines Ausgestoßenen, eines Flüchtlings, eines „Gefallenen“ – nicht im militärischen, sondern im moralischen, existentiellen Sinn. Und mehr noch: Es ist der Versuch, eine Sprache zu finden für das Unaussprechliche – für die geistige Implosion einer Nation und die Seelenqualen jener, die dieser Implosion entkommen, aber niemals entronnen sind.
Ein Mensch fällt aus Deutschland ist ein Roman – oder vielmehr: ein autobiographisch grundierter Bericht – der sich der üblichen narrativen Konvention entzieht. Keine kohärente Handlung, keine traditionelle Dramaturgie; stattdessen ein Mosaik aus Erinnerungen, Reflexionen, Begegnungen und inneren Monologen. Es ist – literaturwissenschaftlich gesprochen – eine Katabasis, ein Abstieg in das Exil und in das eigene Ich des Autors.
Was den Text besonders macht, ist seine Perspektive: Es ist nicht der Blick zurück aus sicherer Distanz, sondern ein Schreiben aus der Flucht heraus, ein Sprechen im Moment der Auflösung, ohne historische Einordnung, ohne Wissen um das Kommende. Diese Unmittelbarkeit verleiht dem Buch seine brennende Intensität.
Konrad Merz – mit bürgerlichem Namen Kurt Lehmann – schreibt in einem Stil, der zugleich nüchtern und expressiv, gebrochen und doch rhythmisch ist. Seine Prosa ist durchzogen von lakonischen Sätzen, elliptischen Konstruktionen, plötzlichen Wechseln von Ich- zu Du- oder gar Wir-Perspektive. Der Text scheint atemlos, fragmentiert – wie das Leben des Erzählers selbst.
Diese stilistische Fragmentierung spiegelt die existenziell bedrohliche Fluchterfahrung und den inneren Zustand des Autors: Entwurzelung, Desorientierung, Identitätsverlust. Doch gerade diese Formverweigerung ist eine Form des Widerstands: ein Aufbegehren gegen die Totalisierung, gegen die glatte Propagandasprache der Nationalsozialisten, gegen das Erzählen, das glättet, wo eigentlich nur Risse sind.
Immer wieder wechselt Merz das Tempo, lässt poetische Passagen abrupt in kühle Beobachtung kippen. Zwischen emotionaler Aufwallung und intellektueller Distanz entsteht ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Diese Form des Schreibens erinnert an Zeitgenossen wie Alfred Döblin oder Franz Werfel, doch Merz’ Stimme bleibt einzigartig: ein Chor aus Schmerz, Ironie und Sehnsucht.
Konrad Merz wurde 1908 als Kurt Lehmann in Berlin geboren. Er wuchs in einer armen jüdischen Schneiderfamilie auf und arbeitete nach dem frühen Tod seines Vaters ab dem 15. Lebensjahr in einem Textilgeschäft. Auf dem Abendgymnasium holte er das Abitur nach und begann 1932 ein Jurastudium. Nachdem Juden auch von den Universitäten ausgeschlossen worden waren, emigrierte er 1934 in die Niederlande. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt unter anderem als Gärtner, schrieb nebenbei jedoch auch kleinere Zeitungsartikel. In Nordholland nahm er den Namen Konrad Merz an. Dank der Hilfe niederländischer Freunde konnte Merz sich bis Kriegsende versteckt halten.
Ein Mensch fällt aus Deutschland ist sein einziges größeres Prosawerk aus jener Zeit, entstanden im Exil, unter denkbar widrigsten Umständen. Der Roman erschien 1936 im legendären Querido Verlag, der damals in Amsterdam eine Bastion des freien Wortes bildete. Autoren wie Klaus Mann, Joseph Roth, Anna Seghers oder Lion Feuchtwanger fanden dort eine publizistische Heimat – Konrad Merz gehörte zu jenen Stimmen, die zwar publiziert wurden, aber nie die große Bühne betraten.
Dass Merz nie in die erste Reihe der Exilliteraten aufstieg, liegt nicht an der Qualität seines Werks, sondern an den Verhältnissen. Nach dem Krieg blieb sein Buch weitgehend vergessen, erst in den 1980er Jahren wurde es wieder aufgelegt – als Teil einer langsamen, aber wichtigen Rückeroberung des verdrängten Erbes der deutschen Exilliteratur.
1933 war nicht nur eine politische Zeitenwende, sondern eine kulturelle Zäsur. Mit der Machtübernahme Hitlers begann der große Exodus der deutschen Intelligenz – Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Schriftsteller. Die Kultur, die aus Deutschland floh, wurde zur anderen deutschen Kultur, einer Gegenöffentlichkeit im Exil.
Konrad Merz’ Roman ist Teil dieser Gegenöffentlichkeit. Doch er ist mehr als bloß ein politisches Zeitdokument. Er ist ein existentieller Text, der das Innenleben eines Menschen erfahrbar macht, der aus der Ordnung der Welt herausgefallen ist. Es geht um das Exil – nicht nur geographisch, sondern ontologisch.
Dabei ist Merz kein agitatorischer Autor. Er polemisiert nicht, er klagt nicht an. Vielmehr zeigt er – mit fast dokumentarischer Präzision – wie sich die Entmenschlichung in den Alltag frisst, wie sie in Zügen, Bahnhöfen, Briefen und Formularen sedimentiert. In dieser Lakonie liegt seine größte politische Kraft.
Der Titel des Buches – Ein Mensch fällt aus Deutschland – ist dabei Programm und Anklage zugleich. Es ist ein Passiv: fällt, nicht flieht. Der Mensch hat keine Handlungsmacht, er wird ausgestoßen. Deutschland ist hier nicht mehr Heimat, sondern ein Raum der Vertreibung.
Ein Mensch fällt aus Deutschland von Konrad Merz ist ein vergessenes Meisterwerk. Kein großes Epos, kein feuilletonistischer Triumph, sondern ein stilles, brennendes Buch – geschrieben mit der Feder eines Menschen, der alles verloren hat außer seiner Würde und Sprache.
In einer Zeit, in der Flucht- und Exilerfahrungen erneut Realität vieler Menschen sind, gewinnt dieses Werk eine neue Aktualität. Es konfrontiert uns mit der Frage, was Heimat bedeutet – und was es heißt, sie zu verlieren. Es zeigt, wie Sprache zur letzten Bastion des Selbst werden kann – und wie schwer es ist, im Angesicht der Barbarei Mensch zu bleiben.
Ein Mensch fällt aus Deutschland verdient einen festen Platz im literarischen Gedächtnis. Nicht nur als Zeugnis einer dunklen Zeit, sondern als Ausdruck einer ungebrochenen Hoffnung: Dass das Wort überlebt. Und mit ihm der Mensch.
Autor: Konrad Merz
Titel: „Ein Mensch fällt aus Deutschland“
Herausgeber: FISCHER Taschenbuch
Erscheinungstermin: 23. April 2025
Seitenzahl: 208 Seiten
ISBN-10: 3596711916
ISBN-13: 978-3596711918
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