Christopher Ryan und Cacilda Jethá: „Sex – Die wahre Geschichte“
Am: | Mai 26, 2025
Es ist hilfreich, wenn man gleich zu Anfang mit einigen Missverständnissen aufräumt: Wir stammen nicht von den Affen ab; wir sind Affen, genauer gesagt: Menschenaffen! Wir Menschen der westlichen Welt haben eine ziemlich verkorkste Wahrnehmung, wenn wir wirklich glauben, dass wir als Menschen „über“ der Natur stünden. Machen wir uns nichts vor! Wir sind bestenfalls vergleichbar mit einem „Surfer, der seine zitternden Beine in ein Brett ‚über‘ den Ozean stemmt“. Eine falsche Bewegung, ein unachtsamer Moment, und schon wird uns unsere innere Natur ins Wasser werfen oder sogar in die Tiefe ziehen …
In ihrem wundervoll unterhaltsamen und sehr klugen Buch wagen die beiden Wissenschaftler Christopher Ran und Cacilda Jethá eine steile These: Vor etwa zehntausend Jahren vollzog sich mit der agrarischen Revolution ein radikaler Wandel im Umgang mit der Sexualität, die es ermöglichte, dass sie „seit Jahrhunderten von Religionen unterdrückt, von Medizinern pathologisiert, von Wissenschaftlern geflissentlich ignoriert“ wurde.
Christopher Ryan und Cacilda Jethá präsentieren in ihrem Werk Sex – Die wahre Geschichte eine provokante Neubewertung der menschlichen Sexualität. Sie argumentieren, dass die weit verbreitete Vorstellung von Monogamie als natürlicher Zustand des Menschen ein kulturelles Konstrukt ist, das erst mit der Sesshaftwerdung und dem Aufkommen von Eigentum entstand. Basierend auf anthropologischen, biologischen und ethnologischen Studien stellen sie die These auf, dass unsere Vorfahren in Jäger- und Sammler-Gesellschaften eine eher polyamore Lebensweise pflegten, bei der Sexualität eine soziale Funktion hatte, um Gemeinschaften zu stärken und Konflikte zu vermeiden.
Die Autoren stützen ihre Argumentation unter anderem auf das Verhalten von Bonobos, unseren nächsten tierischen Verwandten, die durch häufige sexuelle Interaktionen soziale Bindungen festigen und Aggressionen abbauen. Sie ziehen Parallelen zu heutigen indigenen Kulturen, wie den Mosuo in China, die matrilinear organisiert sind und keine festen monogamen Beziehungen kennen.
Das hochinteressante und sehr unterhaltsam geschriebene Buch der beiden Psychologen umkreist drei Kernthesen:
- Monogamie ist ein kulturelles Konstrukt: Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus monogam sei, wird als „Standardnarrativ“ bezeichnet, das durch kulturelle und religiöse Entwicklungen entstanden ist, insbesondere mit dem Aufkommen von Eigentum und der Notwendigkeit, Erbschaften zu sichern.
- Sexualität dient sozialen Funktionen: In frühen menschlichen Gesellschaften diente Sexualität nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der sozialen Kohäsion, dem Abbau von Spannungen und der Stärkung von Gemeinschaften. Dieses Verhalten ist auch bei Bonobos zu beobachten, die Sexualität zur Konfliktvermeidung und sozialen Bindung einsetzen.
- Weibliche Sexualität ist aktiv und vielseitig: Die Autoren widersprechen dem Mythos der passiven weiblichen Sexualität und betonen, dass Frauen in vielen Kulturen eine aktive Rolle in der sexuellen Auswahl und Praxis spielen. Sie argumentieren, dass die Unterdrückung weiblicher Sexualität ein Produkt patriarchaler Strukturen ist.
Die Thesen von Ryan und Jethá sind zweifellos provokant und fordern etablierte Vorstellungen heraus. Ihre Argumentation basiert auf einer Vielzahl von Studien und Beobachtungen, sowohl aus der Tierwelt als auch aus menschlichen Kulturen. Die Parallelen zwischen dem Verhalten von Bonobos und frühen menschlichen Gesellschaften sind faszinierend und bieten neue Perspektiven auf die Funktion von Sexualität.
Allerdings gibt es auch Kritikpunkte. Einige Wissenschaftler werfen den Autoren vor, selektiv Beweise auszuwählen, die ihre Thesen unterstützen, während widersprüchliche Daten ignoriert werden. Die Übertragung von Verhaltensweisen von Bonobos auf Menschen wird als problematisch angesehen, da trotz genetischer Nähe erhebliche Unterschiede in sozialen Strukturen und kognitiven Fähigkeiten bestehen.
Zudem wird argumentiert, dass die romantisierte Darstellung von Jäger- und Sammler-Gesellschaften als sexuell freizügig und harmonisch möglicherweise die Komplexität und Vielfalt menschlicher Kulturen unterschätzt. Und auch die Annahme, dass Monogamie ausschließlich ein Produkt der Sesshaftwerdung sei, wird von einigen Forschern als zu vereinfachend kritisiert.
Das Buch reiht sich in eine Reihe von Arbeiten ein, die traditionelle Annahmen über menschliche Sexualität hinterfragen. Es bietet eine alternative Sichtweise, die den Einfluss von Kultur und Gesellschaft auf sexuelle Normen betont. Während viele evolutionspsychologische Theorien Monogamie als evolutionär vorteilhaft betrachten, stellen Ryan und Jethá diese Sichtweise infrage und betonen die Bedeutung von Kooperation und sozialer Bindung durch Sexualität.
Ihre Arbeit trägt zur Debatte über die Vielfalt menschlicher sexueller Praktiken und Orientierungen bei und fordert dazu auf, kulturelle Normen kritisch zu hinterfragen. Sie plädieren für einen offeneren und toleranteren Umgang mit unterschiedlichen Beziehungsmodellen und sexuellen Orientierungen.
Sex – Die wahre Geschichte ist ein herausforderndes und zum Nachdenken anregendes Werk, das etablierte Vorstellungen über menschliche Sexualität infrage stellt. Das englischsprachige Original erschien bereits 2010 und die deutsche Erstausgabe 2017. Nun gibt es eine preisgünstige Taschenbuchausgabe, dank derer sich diese umwälzenden und aufwühlenden Erkenntnisse hoffentlich noch einer größeren Öffentlichkeit erfreuen werden; denn der Perspektivwechsel, welcher sich durch die Lektüre dieses spannenden Sachbuches ergibt, ist wirklich erfrischend und für manche Leser vielleicht irritierend.
Sex – Die wahre Geschichte kombiniert wissenschaftliche Forschung mit einer kritischen Analyse kultureller Normen und bietet neue Perspektiven auf die Funktion von Sexualität in menschlichen Gesellschaften. Trotz einiger Kritikpunkte bietet das Buch wertvolle Impulse für die Diskussion über Sexualität, Beziehungen und gesellschaftliche Normen.
Autor: Christopher Ryan und Cacilda Jethá
Titel: „Sex – Die wahre Geschichte“
Herausgeber: Klett-Cotta
Seitenzahl: 432 Seiten
ISBN-10: 360898870X
ISBN-13: 978-3608988703
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