kulturbuchtipps.de

Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Martin Puchner: „Kultur – Eine neue Geschichte der Welt“

Am: | April 26, 2025

Martin Puchners Werk Kultur – Eine neue Geschichte der Welt ist ein ambitioniertes Projekt: Es versucht, die Geschichte der Menschheit durch das Prisma der Kultur zu erzählen und dabei einen neuen, integrativen Blick auf die Entwicklung kultureller Ausdrucksformen zu werfen. Puchner, Professor für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University, ist bekannt für seine interdisziplinären Ansätze und seine Fähigkeit, komplexe kulturelle Phänomene verständlich zu machen.

Puchner beginnt seine Darstellung mit der These, dass Kultur nicht nur ein Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist, sondern deren treibende Kraft. Er definiert Kultur als die Gesamtheit der menschlichen Bemühungen, Bedeutung zu schaffen und zu vermitteln. Dabei unterscheidet er zwischen „Know-how“ – dem technischen Wissen – und „Know-why“ – dem kulturellen Wissen, das sich mit dem Sinn und Zweck menschlichen Handelns auseinandersetzt. Diese Unterscheidung bildet die Grundlage für seine kulturhistorische Erzählung, die von den frühesten Höhlenmalereien bis zur modernen Popkultur reicht.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, wobei Puchner verschiedene Epochen und Kulturräume beleuchtet. Er beginnt mit der prähistorischen Kunst, etwa den Höhlenmalereien von Lascaux, und zeigt, wie früh der Mensch begann, seine Umwelt symbolisch zu verarbeiten. Anschließend widmet er sich den Hochkulturen des Altertums, wie dem alten Ägypten, Mesopotamien und China, und analysiert deren Beiträge zur Schriftkultur, Architektur und Philosophie.

Ein zentrales Beispiel ist die Stadt Amarna, die unter Pharao Echnaton als neues religiöses Zentrum gegründet wurde. Puchner beschreibt, wie diese Stadt nicht nur architektonisch innovativ war, sondern auch einen radikalen Wandel in der religiösen Praxis darstellte – weg vom Polytheismus hin zu einem monotheistischen Sonnenkult. Die spätere Zerstörung Amarnas und die Rückkehr zum alten Glauben illustrieren für Puchner die Fragilität kultureller Innovationen.

Ein weiteres Beispiel ist die Theatertradition des antiken Griechenlands. Puchner analysiert die Tragödien von Sophokles und Euripides und zeigt, wie diese Werke nicht nur ästhetische Meisterleistungen waren, sondern auch gesellschaftliche Diskurse über Moral, Politik und das menschliche Schicksal anregten. Er betont die Bedeutung des Theaters als öffentlicher Raum für kulturelle Reflexion.

In der Betrachtung der islamischen Welt hebt Puchner die Rolle der Bibliotheken hervor, insbesondere die von Timbuktu, die im Mittelalter ein Zentrum des Wissens und der Kultur war. Er zeigt, wie dort Texte aus verschiedenen Kulturen gesammelt, übersetzt und kommentiert wurden, was zu einer Blütezeit der Wissenschaft und Philosophie führte.

Ein besonderes Augenmerk legt Puchner auf die kulturelle Hybridität. Er analysiert das Werk „Death and the King’s Horseman“ des nigerianischen Dramatikers Wole Soyinka, das westliche Theaterformen mit traditionellen Yoruba-Elementen verbindet. Puchner sieht darin ein Beispiel für die kreative Kraft kultureller Vermischung, die neue Ausdrucksformen und Perspektiven ermöglicht.

Puchner bezeichnet seine Darstellung als „neue“ Kulturgeschichte, weil er bewusst einen globalen und integrativen Ansatz wählt. Er kritisiert die traditionelle eurozentrische Geschichtsschreibung, die kulturelle Entwicklungen oft isoliert und hierarchisch betrachtet. Stattdessen betont er die Vernetztheit und gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen.

Ein zentrales Argument ist, dass Kultur nicht statisch ist, sondern sich ständig durch Austausch, Aneignung und Transformation weiterentwickelt. Puchner spricht von Kultur als einem „Recycling-Projekt“, bei dem Ideen und Ausdrucksformen immer wieder neu interpretiert und angepasst werden. Er plädiert dafür, kulturelle Aneignung nicht per se negativ zu bewerten, sondern als Motor kultureller Innovation zu verstehen.

Allerdings bleibt die Frage, inwiefern dieser Ansatz tatsächlich neu ist. Bereits Historiker wie Jürgen Osterhammel haben in Werken wie Die Verwandlung der Welt (2009) globale Perspektiven eingenommen und die Interaktionen zwischen Kulturen betont. Puchners Beitrag liegt eher in der Popularisierung und anschaulichen Darstellung dieser Ansätze für ein breiteres Publikum.

Puchners Werk ist zweifellos beeindruckend in seiner Breite und Tiefe. Er schafft es, komplexe kulturelle Entwicklungen verständlich und spannend zu vermitteln. Seine Beispiele sind gut gewählt und illustrieren seine Thesen anschaulich. Allerdings könnte man kritisieren, dass Puchner gelegentlich zu sehr vereinfachend vorgeht. Die Darstellung komplexer kultureller Prozesse als lineare Entwicklungen kann der Realität nicht immer gerecht werden. Zudem bleibt die Rolle von Machtverhältnissen und kolonialen Strukturen in der kulturellen Aneignung oft unterbelichtet. Ein weiterer Kritikpunkt ist die begrenzte Berücksichtigung nicht-literarischer Kulturformen. Während Puchner sich intensiv mit Literatur, Theater und Philosophie auseinandersetzt, kommen andere Ausdrucksformen wie Musik, Tanz oder bildende Kunst weniger zur Geltung.

Martin Puchner, geboren 1969 in Erlangen, ist ein renommierter Literaturwissenschaftler mit einem beeindruckenden akademischen Werdegang. Er studierte an den Universitäten Konstanz, Bologna und Santa Barbara und promovierte an der Harvard University, wo er heute lehrt. Puchner ist Mitglied der Academia Europaea und erhielt 2017 ein Guggenheim-Stipendium. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Weltliteratur, Theatergeschichte, Philosophie sowie die politischen und ästhetischen Dimensionen des Schreibens und Erzählens.

Besonders hervorgetreten ist Puchner mit dem Werk The Written World: The Power of Stories to Shape People, History, Civilization, in dem er bereits die These vertritt, dass Schriftkultur nicht nur Spiegel, sondern treibende Kraft der Geschichte sei. Puchner gilt als einer der führenden Vertreter einer interkulturellen Literaturwissenschaft, die den Eurozentrismus hinter sich lassen möchte. Er ist regelmäßig Gastautor in bedeutenden Feuilletons wie der New York Times, The Guardian oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.

Seine Methode zeichnet sich durch narrative Zugänglichkeit, interdisziplinäre Verschränkungen und die Verknüpfung von Mikro- und Makroperspektiven aus. Er verbindet die „großen Linien“ der Geschichte mit kleinen Anekdoten, wie der Reise einer persischen Handschrift von Samarkand über Kairo nach Paris oder der Bedeutung von Maya-Codices für das kulturelle Selbstverständnis indigener Völker.

Ein faszinierendes Kapitel widmet Puchner der Bedeutung der Seidenstraße – nicht nur als Handelsweg, sondern als kultureller Katalysator. Er beschreibt, wie sich auf diesem Netz aus Routen nicht nur Seide und Gewürze bewegten, sondern auch Erzähltraditionen, religiöse Ideen und ästhetische Stile. So lässt sich etwa nachvollziehen, wie buddhistische Ikonografie über Gandhara bis nach Japan reiste und dort mit einheimischen Mythen verschmolz.

Mit dieser Methode will Puchner zeigen, dass Kultur immer schon transkulturell war – ein Gewebe aus Migration, Übersetzung und Transformation. Damit positioniert er sich gegen essentialistische Kulturbegriffe, die „westliche“, „östliche“ oder „afrikanische“ Kultur als monolithische Blöcke darstellen. Er argumentiert stattdessen für einen dynamischen Kulturbegriff, in dem Austauschprozesse als konstitutive Elemente betrachtet werden.

Trotz dieses Anspruchs bleibt ein zentraler Aspekt erstaunlich unterbelichtet: die Gewalt der kulturellen Aneignung im kolonialen Kontext. Zwar erwähnt Puchner mehrfach, dass der europäische Imperialismus tiefgreifende Spuren im globalen Kulturerbe hinterlassen hat – etwa durch die Zerstörung indigener Schriftkulturen oder den Export europäischer Bildungsmodelle –, doch häufig geschieht dies eher in Nebensätzen als in systematischer Analyse.

Ein Beispiel dafür ist seine Behandlung der britischen Kolonialpolitik in Indien. Während er zu Recht auf die kulturelle Blüte im Mogulreich hinweist und die Übersetzung indischer Sanskrittexte ins Arabische und Persische als Beispiel für interkulturellen Dialog herausarbeitet, bleibt die gewaltsame Durchsetzung britischer Kulturmodelle im 19. Jahrhundert – etwa durch das Bildungssystem nach Macaulay – weitgehend unkommentiert. Auch die systematische Entwendung kultureller Artefakte wird nur gestreift.

Hier wäre eine differenziertere Betrachtung nötig, um den komplexen Zusammenhang von Macht, Repräsentation und kulturellem Erbe zu beleuchten. Denn Kulturgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Ideen, sondern auch eine Geschichte der Konflikte um Deutungshoheit, Sichtbarkeit und Anerkennung.

Positiver fällt Puchners Bewertung kultureller Hybridität aus. Er sieht sie nicht als Verlust oder Verfall, sondern als kreative Ressource. Besonders deutlich wird das in seiner Analyse moderner literarischer Stimmen aus der Diaspora – etwa Salman Rushdie, Chimamanda Ngozi Adichie oder Ocean Vuong. Diese Autoren, so Puchner, repräsentieren eine neue Weltliteratur, die sich nicht mehr entlang nationaler Grenzen organisieren lässt, sondern durch Migration, Mehrsprachigkeit und digitale Verbreitungswege geprägt ist.

In einer Passage beschreibt er die Bedeutung von Subkulturen wie dem afrodiasporischen Hip-Hop oder queeren Performance-Formen in den urbanen Zentren des 21. Jahrhunderts. Für Puchner sind sie Beispiele dafür, wie marginalisierte Gruppen kulturelle Räume erobern, um ihre Erfahrungen sichtbar zu machen. Er begreift diese Phänomene als Teil einer „kulturellen Globalisierung von unten“, die etablierte Narrative herausfordert.

Ein weiterer zentraler Aspekt von Puchners Analyse ist die Rolle der Sprache als Speicher und Medium kultureller Bedeutung. In diesem Zusammenhang untersucht er nicht nur klassische Literaturen, sondern auch die politischen Dimensionen sprachlicher Standardisierung, Übersetzung und Auslöschung. Das Kapitel über die Inuit-Sprache in Kanada, deren Repressalien und spätere Revitalisierungsprogramme, zählt zu den stärksten des Buches.

Er beschreibt eindrucksvoll, wie Sprachen mit kulturellen Weltbildern verknüpft sind – und wie ihr Verlust nicht nur ein sprachlicher, sondern auch ein epistemischer ist. Dabei plädiert er für eine „polyglotte Humanität“, die Mehrsprachigkeit nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung begreift.

Kultur – Eine neue Geschichte der Welt ist ein weit ausgreifendes, kenntnisreiches und leidenschaftlich geschriebenes Werk, das die Leser auf eine kulturhistorische Weltreise mitnimmt. Puchner gelingt es, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen und das Bewusstsein für die transkulturellen Dynamiken menschlicher Geschichte zu schärfen. Die Darstellung ist reich an Beispielen, oft elegant formuliert und in ihrer Perspektive erfrischend global.

Trotz gelegentlicher Vereinfachungen und einer gewissen Unterbelichtung kolonialer Machtverhältnisse ist das Buch ein beeindruckendes Plädoyer für die kulturelle Vielfalt und das verbindende Potenzial menschlicher Ausdrucksformen.

Besonders geeignet ist das Buch für Leserinnen und Leser, die sich für Weltgeschichte, Literatur, Philosophie und interkulturelle Fragen interessieren. Es spricht sowohl ein akademisches Publikum an, das neue Impulse für die eigene Forschung sucht, als auch kulturinteressierte Laien, die sich nicht mit linearen Fortschrittserzählungen zufriedengeben wollen. Für Studierende in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist es fast Pflichtlektüre – nicht zuletzt wegen seiner methodischen Zugänglichkeit und des reichen Quellenmaterials.

 

 

Autor: Martin Puchner
Titel: „Kultur – Eine neue Geschichte der Welt“
Herausgeber: Klett-Cotta
Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
ISBN-10: 3608966595
ISBN-13: 978-3608966596

 

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner