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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Kerstin Holzer: „Thomas Mann macht Ferien – Ein Sommer am See“

Am: | April 25, 2025

Thomas Mann macht mit seiner Familie Ferien am Tegernsee. Es ist Sommer 1918, der letzte Kriegssommer, der letzte Sommer des deutschen Kaiserreichs. Das Wetter ist schön, die Natur lädt ein zu langen Spaziergängen mit dem Hund, abends rudern die Eltern, Katia und Thomas, auf den See hinaus.

Es klingt zunächst nach einer, wie wir heute sagen würden, „perfekten Auszeit“, um Abstand zu finden vom Alltag und den täglichen Sorgen. Doch so einfach ist es nicht; der Weltkrieg hat längst seine Spuren auch im Deutschen Reich hinterlassen, es gibt Versorgungsschwierigkeiten, und selbst bei Familie Mann, einer wohlhabenden Familie aus bestem bürgerlichen Hause, sammeln die Kinder auf den nassen Waldpfaden ums Haus saftige Schnecken ein, die dann im Kochtopf landen für ein sättigendes Mahl.

Die Manns reisen mit einer großen Entourage an den Tegernsee. Mit fünf Kindern im Alter von drei Monaten bis zwölf Jahren, einer Köchin, einem Haus- und einem Kindermädchen und mit einem Hund. Das bringt schon vor der Abreise eine Menge Unordnung in den Haushalt, was Thomas Mann gar nicht recht ist. Er braucht Struktur, Planung, Verlässlichkeit; doch seine Frau Katia ist bekannt für ihre Vergesslichkeit, und so ist das Chaos vorhersehbar, ja unvermeidlich.

Die Anreise aus München mit der Eisenbahn (zweiter Klasse) und mit dem Motorboot über den Tegernsee bis zur Anlegestelle mit dem treffenden Namen Abwinkl ist für Thomas Mann beschwerlich; seit Tagen plagen ihn Zahnschmerzen, es ist die Krone des Schneidezahns, dabei würde ihn die Unannehmlichkeiten der Reise auch ohne diese Schmerzen schon bedrängen. Überhaupt befindet er sich seit Längerem in einer labilen nervlichen Verfassung.

Der Ausbruch des Krieges hatte ihn geradezu gezwungen, sich als Intellektueller von Rang eindeutig zu positionieren. Der Streit mit dem Bruder Heinrich war Veranlassung genug für Thomas Mann, seinen Beitrag zu leisten zur moralischen Stützung des deutschen Volkes in diesem historischen Moment nationaler Erhebung; Thomas war Konservativer und Patriot, während der ältere Bruder als Demokrat und Liberaler eine entgegengesetzte Position vertrat.

Thomas Mann ließ alle großen literarischen Projekte ruhen und begann mit seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“: ein langer patriotischer Essay über deutsche „Kultur“ und westliche „Zivilisation“, über deutsche Tiefe und westliche Oberflächlichkeit, über deutsche Seele und westliche Geschäftigkeit – eine 600 Seiten lange Zerteilung der Welt in Gut und Böse, in Kultur und Zivilisation.

Mit dem Haus Defregger am Ringsee hat man ein wirklich schönes Feriendomizil für die Sommermonate von Mitte Juli bis Mitte September gefunden. Das eigene Haus der Manns in Bad Tölz hatte man gerade vor einem Jahr verkauft und den Erlös in deutsche Kriegsanleihen gesteckt – wirtschaftlich eine sehr schlechte Entscheidung. Aber man muss ja nach vorne schauen, und das Haus Defregger war doch auch sehr hübsch, direkt am See gelegen mit einem eigenen Bootssteg und genügend Platz für die große Familie.

Thomas Mann kommt also mit Zahnschmerzen und jeder Menge Sorgen in seinem Feriendomizil an. Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind inzwischen nicht nur abgeschlossen, sondern auch schon gesetzt und liegen ihm zur Endkorrektur als Fahnen vor. Es hat lange gedauert, bis er zum Ende gekommen war; der schnelle deutsche Sieg an allen Fronten, wie er und viele andere ihn sich anfangs erhofft hatten, hat sich nicht eingestellt, im Gegenteil: Die Anzeichen häufen sich, dass der Krieg nicht nur verloren ist, sondern auch schon bald seinem Ende zugehen könnte. – Und in diese Phase hinein soll nun sein patriotisches Bekenntnis zum Krieg und Sieg der deutschen Kultur über die westliche Zivilisation als Buch erscheinen?! Seine eigene politische Einstellung zu dem Ganzen hat sich auch gewandelt; längst ist er nicht mehr der überzeugte Monarchist, sondern zweifelt an der Überlegenheit des deutschen Geistes.

In den langen Ferienmonaten wird er mit seinem Hund Bauschan, einem echten Wildfang, lange Spaziergänge machen und sich mit der schönen Erzählung Herr und Hund von dem großen weltpolitischen Kriegsgetümmel ablenken. Schlimm genug, dass seine Betrachtungen nun zur Unzeit erscheinen werden – vielleicht lässt sich ja mit dem Verlag reden und die Auslieferung noch stoppen? –, und so tut es ihm wohl, sich mit seinen Kindern, seiner lieben Katia und auch mit dem Hund Bauschan in diese Idylle zurückzuziehen und seine empfindlichen Nerven zu schonen.

Kerstin Holzer ist mit diesem Buch eine sehr atmosphärische und lebendige Collage geglückt; Thomas Mann macht Ferien, und der Leser reist in Gedanken mit der Familie an den Tegernsee. Es gelingt der Autorin durch die Einbindung zahlreicher Quellen (Tagebücher, Briefe, Tageszeitungen usw.) ein plastisches Bild zu malen; wer die wunderschöne Gegend am Tegernsee aus eigener Anschauung kennt, wird sich noch heimischer fühlen in dieser Buchlandschaft. Thomas Mann macht Ferien liest sich wie ein Roman, ist aber im weitesten Sinne ein biografisches Sachbuch; in Sachen Familie Mann darf die erfolgreiche Journalistin und Autorin durchaus als eine „Wiederholungstäterin“ bezeichnet werden, denn sie hat bereits über die beiden Mann-Töchter Elisabeth und Monika ähnliche schöne Bücher verfasst.

Der Somme 1918 am See ist ein ganz besonderer für Thomas Mann; es ist ein Sommer, der ihn verändern wird, nicht nur die Landschaft und die Erlebnisse am Tegernsee sind an dieser Veränderung beteiligt, sondern natürlich auch die turbulenten Entwicklungen im deutschen Reich gegen Ende des Krieges. Unmut und Widerstand nehmen in der Bevölkerung zu, die Monarchie zieht sich immer weiter aus der Politik zurück, das Militär wird mit der eigenen Unterlegenheit konfrontiert. Etwas Altes geht zu Ende, und Neues wird beginnen.

Die Lektüre dieses wunderbar leicht geschriebenen (und trotzdem bis ins kleinste Detail sorgsam recherchierten) Buches ist für alle Leser geeignet, die sich im Thomas-Mann-Jahr 2025 für das private Leben des Schriftstellers interessieren. Davon abgesehen ließe es sich aber auch als Roman lesen: als eine Geschichte über die Veränderungen, die ein Sommer am See im Leben eines erfolgreichen Schriftstellers bewirkt, der sich künstlerisch (und ideologisch) in einer Umbruchphase und an einem Wendepunkt befindet. Welche neuen Wege er nach dem Urlaub gehen wird, das ist spannend und lehrreich zu lesen.

 

 

 

 

 

 

Autor: Kerstin Holzer
Titel: „Thomas Mann macht Ferien – Ein Sommer am See“
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
ISBN-10: 3462006711
ISBN-13: 978-3462006711

 

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